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Fangonia (German Edition)

Fangonia (German Edition)

Titel: Fangonia (German Edition)
Autoren: Ulrike Talbiersky
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Marla

    T räumerisch ruhte Dinas Blick auf dem silbrig-grauen Ozean. In endloser Weite erstreckte er sich vor ihr. Sie blinzelte, das Licht war gleißend hell. Man musste ganz genau hinschauen, um am Horizont die verwaschene Trennlinie zwischen Meer und Himmel ausmachen zu können. Der Duft von Ferien hing in der heißen Luft, und Dina spürte die Freiheit in jeder Faser ihres Körpers. Sie saß ganz am Ende des Holzsteges und ließ die Füße im Wasser baumeln. Die Wellen kitzelten sie sanft und spülten den Sand zwischen ihren Zehen heraus.
    Immer wieder hob Dina die große, wunderbar geschwungene Muschel an ihr Ohr, um das wohlige Rauschen zu hören. Sie hatte dann das Gefühl, als wisperte ihr die Muschel die tiefsten und versunkensten Geheimnisse des Ozeans ins Ohr.
    Am Morgen hatte Dina die große Muschel am Strand entdeckt. Sie lag direkt neben der kleinen, alten Steinmauer und hatte sich in etwas Seetang verfangen. Dina hatte sie von der grünen Fessel befreit und trug sie nun mit sich wie einen Schatz. Kleine Muscheln gab es hier viele, aber so eine prächtige, das war selbst in dieser Gegend selten.
    Joe wird staunen , dachte sie zufrieden.
    Am Strand saß die alte Marla, eine Netzflickerin, und summte leise ein altes Lied. Sie saß jeden Tag so da: der weite Rock im Sand um sie herum ausgebreitet, das zu flickende Netz auf ihrem Schoß, ihr Gesicht über die Arbeit gebeugt. Nicht selten verlor sich ihr Blick jedoch in der unbestimmten Ferne des Meeres.
    Es unterschied Marla nicht viel von den anderen Netzflickerinnen in Gutao, dem Dorf, in dem Dina wohnte. Es gab viele Frauen, vor allem ältere, die sich um die löchrigen Netze der Fischer kümmerten. Vielleicht lag der Unterschied einfach an dem Hauch des Geheimnisvollen, der sie umwehte, und der besonders die Kinder des Dorfes lockte.

    Dina lauschte der schönen Melodie. Bestimmt verbarg sich eine wunderbare Geschichte hinter den dunklen Tönen. Der Wind wehte sanft vom Meer herüber. Dina sog die vertraute, salzige Luft tief ein und schloss die Augen. Die alten Frauen kannten viele Geschichten von wundersamen Wesen. Dina liebte ihre Erzählungen. Früher hatte sie sich oft von einer der Netzflickerinnen für eine halbe Stunde in eine Fabelwelt entführen lassen. Das tat sie jetzt nicht mehr. Schließlich war sie schon elf Jahre alt und einfach zu erwachsen für solche Märchen. Dennoch liebte sie sie.
    Die zarte Melodie wurde durch klingendes Kinderlachen aus der Luft gerissen. Eine Gruppe kleiner Jungen und Mädchen rannte auf die alte Marla zu. Sie schaute von ihrem Flickzeug auf. Ihr Gesicht glich dem aller alter Netzflickerinnen im Dorf: die harte Arbeit im Freien, die würzige Seeluft und die heiß brennende Sonne ließen die Gesichter mit den Jahren wie braune, furchige Landschaften aussehen. Gutmütig ließ die Alte die Kinder um sich herum Platz nehmen und lächelte. Dina wusste, dass die Kinder nicht lange auf eine Geschichte würden warten müssen – die Frauen erzählten gerne.
    Dina meinte manchmal einen wehmütigen Ton aus den Erzählungen der Frauen herauszuhören, als ob sie etwas längst Vergessenes in frische Erinnerungen kleideten. Das entfachte eine unbestimmte Sehnsucht in ihr, die sie zugleich fesselte und unendlich frei fühlen ließ. Wie sehr wünschte sie sich jetzt wieder ein kleines Kind zu sein, wie gerne würde sie sich in den muscheligen Sand neben den weiten Rock der Alten setzen, und mit den Jungen und Mädchen einer neuen spannenden Geschichte lauschen. Stattdessen schaute sie nur kurz zu der kleinen Menschengruppe hinüber, um dann mit übertriebener Teilnahmslosigkeit den Blick in die weite Ferne schweifen zu lassen.
    Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich Dinas Augen und die der alten Frau. Es war nur ein besagter Augenblick , aber Dina hatte dennoch das Gefühl, die Frau hätte in ihr Herz geblickt. Es kam ihr nämlich so vor, als würde Marla extra laut und deutlich sprechen, sodass sie auf dem Steg fast jedem Wort, das der Wind herüberwehte, folgen konnte. Es war eine wunderbare Geschichte. Eine Feen-Prinzessin und Kobolde kamen darin vor. Dina tauchte ein in die Welt der Sagenwesen. Sie sog die Wörter, die dieser Welt so fremd waren, in sich auf und kostete genussvoll ihren Klang: Feenstaub, Orchideengold…
    Sie blinzelte kurz zu dem Grüppchen herüber und lächelte bei dem Anblick großer runder Kinderaugen, die an den vom Seewind spröden Lippen der Geschichtenerzählerin hingen.

    „Wo sind all die
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