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Arkadien 01 - Arkadien erwacht

Titel: Arkadien 01 - Arkadien erwacht
Autoren: Kai Meyer
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Rosa
    Ü ber dem Atlantik weckte sie die Stille. Sie kauerte mit angezogenen Knien auf ihrem Sitz, verbogen und verdreht von fünf Stunden Enge. Die Fenster des Flugzeugs waren verdunkelt, die meisten Passagiere schliefen unter grauen Decken.
    Keine Stimmen, keine Laute. Sie brauchte einen Moment, ehe sie den Grund erkannte.
    Ihr Kopfhörer schwieg.
    Ein Blick aufs Display ihres iPods: Alles gelöscht, mehrere Wochen Musik mit einem Schlag verschwunden. Nur ein einziges Genre war noch da, ein einziger Interpret, ein einziges Lied. Eines, das sie nie zuvor gehört und sicher nicht selbst aufgespielt hatte. Sie klickte sich noch einmal durch das Menü.
    Andere.
    Scott Walker.
    My Death.
    Sonst nichts. Alles weg.
    Leere passte gut zum Neubeginn ihres Lebens.
    Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und hörte My Death als Endlosschleife, die nächsten drei Stunden bis zur Landung in Rom.
    s
    Am Flughafen Fiumicino erfuhr Rosa, dass ihr Anschlussflug nach Palermo wegen eines Lotsenstreiks ausfiel. Die nächste Maschine ging in fünfeinhalb Stunden. Sie war hundemüde und My Death rotierte in ihrem Kopf nun auch ohne Ohrstöpsel.
    Während der Wartezeit musste sie das Terminal wechseln. Mit ihrem Handgepäck stand sie schläfrig auf einem endlosenLaufband. Draußen war es noch dunkel, sechs Uhr am Morgen, und das hell erleuchtete Innere des Korridors spiegelte sich in riesigen Fensterscheiben. Rosa sah sich selbst auf dem Band, das lange blonde Hexenhaar zerzaust wie immer, ganz in Schwarz gekleidet, und die Schatten um ihre eisblauen Augen so dunkel, als hätte sie zu viel Kajal benutzt. Tatsächlich war sie ungeschminkt. Seit der Nacht vor einem Jahr ließ sie die Finger von Make-up.
    Das Trägertop betonte ihre puppenhafte Gestalt. Zu klein und zu schmal für ihre siebzehn Jahre. Aber jetzt sah sie eine Familie hinter sich auf dem Band, mit dicken Kindern und dicken Lunchpaketen, und sie war froh, dass sie dünn und appetitlos und eben anders und so schwierig auf die Welt gekommen war.
    Eine Schwangere stand vor ihr. Rosa hielt Abstand, ohne der Gruppe hinter ihr zu nahe zu kommen. Im Flugzeug hatte sie trotz aller Enge ihren eigenen Sitzplatz gehabt, um den sie in Gedanken einen Käfig gebaut hatte. Ihre kleine Welt am Fenster. Aber hier am Boden war alles in Bewegung; zu viele Menschen, zu großes Durcheinander, um klare Grenzen zu ziehen.
    Sie steckte wieder die Stöpsel ins Ohr. Ein rätselhaftes Lied, das nach einem schwarz-weißen Europa klang, nach alten Filmen mit Untertiteln. Nach Gangstern in schwarzen Anzügen auf hitzedurchglühten Strandpromenaden und nach wunderschönen Französinnen mit Sonnenhüten, die von eifersüchtigen Liebhabern erdrosselt wurden.
    Das Lied hätte nicht My Death heißen müssen, um sie auf solche Gedanken zu bringen. Es war etwas im aufgepeitschten Drama der Musik, im Klang der tiefdunklen Männerstimme. Todessehnsucht mit einem Beigeschmack von eisgekühlten Martinis.
    My death waits like
    A bible truth
    At the funeral of my youth
    Weep loud for that
    And the passing time.
    Sie träumte von verwischten Blutstropfen auf den Decks weißer Mittelmeerjachten, von melancholischem Schweigen zwischen Liebenden unter südlicher Sonne.
    Das Laufband spie sie in die überfüllte Wartehalle.
    s
    Andere trugen zur Sicherheit Elektroschocker oder Pfefferspray. Rosa hatte sich einen Tacker gekauft, in einem Eisenwarenladen an der Baltic Street, Ecke Clinton. Die Idee dahinter war simpel: Ein Stromschlag ist unangenehm, hinterlässt aber keine Spuren. Sie hingegen konnte einem Angreifer erst mal zwei, drei Eisenklammern in den Körper tackern. Dann musste er sich überlegen, ob er es mit ihr aufnehmen oder nicht doch lieber die Klammern aus seiner Haut ziehen wollte. Genug Zeit, um ihm eine zu verpassen. Beim letzten Mal hatte sie sich einen Fingernagel abgebrochen. Unangenehm.
    Den Tacker hatte sie mit ihrem Koffer aufgeben müssen. Ihre schwarze Jacke trug sie in der linken Hand; die ausgebeulte Seitentasche verriet, wo sie das Ding sonst aufbewahrte. Der Anblick störte sie, weil etwas fehlte. Neurotisch, hätte ihre Schwester Zoe gesagt. Rosa beschloss die Tasche mit etwas zu füllen. Ihr Blick fiel auf einen Süßigkeitenstand am Rand der Wartehalle. Der Verkäufer lehnte dahinter an der Wand und döste mit halb geöffneten Augen. Außer der Familie vom Laufband hatte in der letzten halben Stunde niemand etwas gekauft.
    Rosa stand von ihrem Platz auf und schlenderte hinüber. Ihr
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