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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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auch jetzt. Würde sie die Wahrheit wissen, wenn sie ihm in die Augen sieht? Was weiß sie eigentlich wirklich über ihn? Vor zehn Minuten hätte sie noch gesagt: Alles .
    Sie schließt die Augen und gibt sich ihren Tränen hin. Irgendetwas muss jetzt passieren. Sie kann nicht einfach nach unten gehen, ihren Kakao austrinken und das Haus staubsaugen.
    »Ich denke, du solltest gehen«, sagt sie. »Ich denke, du solltest ausziehen.«
    Er steht reglos da. Beth hört auf zu weinen und wartet mit angehaltenem Atem auf seine Antwort.
    »Okay.«
    Und dann ist er in Bewegung. Er steht am Wandschrank, zieht Kleidungsstücke von Bügeln, er steht an seiner Kommode, räumt Schubladen aus. Er packt seine Sporttasche.
    Sie will aufschreien, aber ihre Stimme ist zu schwach, um einen Laut hervorzubringen. Okay? Er setzt sich nicht einmal zur Wehr. Er entschuldigt sich nicht, fleht nicht um Verzeihung. Okay? Er bittet sie nicht, mit ihm an dieser Sache zu arbeiten, ihn bleiben zu lassen.
    Er will gehen .
    Sie will ihn schlagen, ihn schütteln, ihn verletzen. Sie will etwas Hartes und Schweres nach ihm werfen. Sie denkt an ihre eiserne Nachttischlampe. Sie will ihn hassen. Aber zu ihrer Scham und Verwirrung will sie ihn auch umarmen, ihn beschwichtigen, ihn aufhalten. Sie will ihm sagen, dass alles gut werden wird. Sie will zu ihm gehen und ihn so küssen, wie sie sich früher geküsst haben. Diese tiefen, langen Küsse, bei denen sie dahingeschmolzen ist.
    Jetzt küsst er eine Frau namens Angie und lässt sie dahinschmelzen .
    Jetzt poltert er im Bad herum, sammelt vermutlich seine Sachen aus dem Medizinschränkchen ein. Sie sieht hinüber zu der Delle im Bett, wo er eben noch geschlafen hat. War er gestern Abend mit Angie zusammen, bevor er nach Hause gekommen ist, um hier zu schlafen und zu schnarchen?
    Sie kann nicht eine Sekunde länger auf diesem Bett, ihrem gemeinsamen Bett, sitzen bleiben. Sie steht auf und beginnt es abzuziehen. Noch immer weinend, zerrt sie die Daunendecke, die Wolldecke und jedes Laken von der Matratze und wirft alles zu einem sich türmenden, besiegten Haufen auf den Boden. Während sie die Bezüge von den Kopfkissen zieht, sieht sie Jimmys Socken auf dem Boden liegen, träge und achtlos hingeworfen, die darauf warten, dass sie sie aufhebt und in den Wäschekorb legt. Sie hebt ständig seine stinkenden Socken auf. Seine stinkenden Socken, seine schmutzige Unterwäsche, seine Jacke, seine Schuhe, seine Krümel überall auf dem Boden von den Pastrami-Sandwiches und Chips, die er isst, ohne einen Teller zu benutzen, die Klumpen getrockneter Zahnpastaspucke, die er im Waschbecken hinterlässt, den Sand, den er ständig durchs Haus trägt. Sie hebt seine stinkenden Socken auf und wischt seine Krümel und seinen Sand und seine Spucke weg und macht seine Wäsche, während er eine Affäre hat.
    Jimmy taucht am Fußende des Betts auf, seine Sporttasche und ihren großen roten Koffer in der Hand, den Koffer, den sie im Kmart in Hyannis gekauft haben, für ihren Ausflug zur Disney World im Oktober. Damals im Oktober, als er sie mit Angie Melo betrogen hat.
    »Ich rufe dich an.« Er klingt widerstrebend.
    »Mmmh.« Sie hält ihre ganze Bettwäsche und seine schmutzigen Socken in den Armen, während sie versucht, ihn nicht anzusehen.
    Er steht da, versucht angestrengt, noch etwas zu sagen, hofft vielleicht, dass sie noch etwas sagt, dass sie ihn aufhält. Sie weiß es nicht. Sie wirft einen raschen Blick auf ihn. Seine Miene ist gequält, Tränen haben sich in seinen Augen gesammelt. Sie sieht weg. Er sagt nichts. Sie auch nicht. Er dreht sich um und geht die Treppe hinunter. Sie rührt sich nicht von der Stelle, bis sie hört, wie die Haustür hinter ihm ins Schloss fällt.
    In der Waschküche misst sie das Waschpulver sorgfältig ab. Der Motor von Jimmys Truck springt an. Sie gießt den Weichspüler in den Messbecher. Jimmy fährt rückwärts aus der Ausfahrt. Sie dreht den Programmknopf auf BETTWÄSCHE und drückt auf START . Sein Truck schaltet in den ersten Gang hoch und rumpelt die Straße hinunter. Sie sieht zu, wie das heiße Wasser auf ihre Bettwäsche strömt. Dampf füllt die Trommel der Waschmaschine. Alles beginnt sich zu drehen.
    Er ist gegangen.
    Sie geht in die Küche, stellt sich an die Spüle, starrt aus dem Fenster und tut gar nichts. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie richtet ihre Gedanken entschlossen auf ihre Alltagsroutine, hofft, dass der Trost und die Sicherheit ihres Tagesplans die wilde
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