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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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Panik bezwingen, die mächtig in ihr aufsteigt.
    Sie muss immer noch das Haus staubsaugen. Und bald kann sie das Abendessen im Schmortopf ansetzen. Es gibt Hühnernudelsuppe. Und zum Nachtisch wird sie Brownies backen. Die Mädchen kommen um zwei aus der Schule. Sophie hat ihre Theatergruppe, Jessica hat Basketball, und Gracie ist zum Spielen verabredet.
    Sie wird es ihnen natürlich nicht sagen. Nicht heute. Sie werden es gar nicht bemerken. Jimmy ist zum Abendessen oder zur Schlafenszeit fast nie zu Hause.
    Sie steht reglos an der Spüle. Der Wind heult. Die Heizung zischt.
    Jimmy ist gegangen.
    Sie atmet tief durch. Okay, Zeit, zu staubsaugen. Aber zuerst, bevor sie irgendetwas anderes tut, ruft sie Petra an.

VIER
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    Es ist vor Sonnenaufgang, und draußen ist es noch dunkel. Nicht so stockfinster wie in den Nantucket-Nächten, die mond- und sternenlos sind, wenn sie die Hand vor den Augen nicht sehen kann. Die Welt um sie herum ist gefärbt wie eine fotografische Lichtpause, ein vormorgendliches Blaugrau. Aber sie ist auch neblig, was typisch ist für diese frühe Stunde, vor allem in der Nähe der Küste, und durch die eingeschränkte Sicht erscheint sie dunkler, als sie tatsächlich ist. Obwohl die Scheinwerfer ihres Jeeps eingeschaltet sind und die Scheibenwischer hin- und herflattern, so schnell sie können, kann Olivia kaum sehen, wohin sie fährt. Sie fährt langsam, vorsichtig. Sie hat es nicht eilig.
    Das Pförtnerhaus von Wauwinet ist nicht besetzt. Sie parkt den Jeep, steigt aus und lässt etwas Luft aus allen vier Reifen. Sie steigt wieder ein und fährt weiter. Der Asphalt geht jetzt in Sand über. Der Sand wird weich, und ihr Jeep sinkt ein, holpert und hüpft, während sie langsam vorwärtskriecht. Hier ist der Nebel sogar noch dichter. Sie kann zu den Seiten nichts sehen, und auch nach vorn nur wenige Meter weit.
    Nach etwas über vier Meilen – sie weiß es nicht sicher, denn sie hat unterwegs keine Orientierungspunkte gesehen – ist der Weg von einer Abzäunung versperrt. Fahrzeugen ist die Zufahrt zum Strand verboten – ein Versuch, die vom Aussterben bedrohten Flötenregenpfeifer zu schützen, die nichts ahnend in den Reifenspuren nisten könnten. Sie parkt ihren Jeep am Zaun und steigt aus.
    Durch tiefen, glatten, vom Wind liebkosten Sand stapft sie am Meer entlang, das sie hören und riechen, aber nicht sehen kann, da der Nebel noch immer alles einhüllt. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Sie zieht eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche und hält sie vor sich, aber der Lichtstrahl zerstreut sich zwischen den Wassermolekülen in der Luft und erweist sich als nutzlos. Sie eilt weiter. Sie weiß, wohin sie geht.
    Als der weiche, nachgiebige Sand in festen Boden übergeht, noch nass von der vorhergehenden Flut, atmet sie erleichtert auf. Jetzt ist jeder Schritt leicht. Trotz der Kälte schwitzt sie, und ihre Beinmuskeln schmerzen. Sie leckt sich die Lippen, genießt den Geschmack von Meersalz. Sie kann das Wasser noch immer nicht sehen, aber sie weiß, dass es jetzt genau vor ihr liegt, und sie ist enttäuscht, dass sie den Leuchtturm nicht sehen kann, der nur ein paar Schritte abseits ihres Weges sein muss, verborgen hinter der Nebelwand.
    Der Leuchtturm Great Point Light ist zweimal zerstört worden, einmal vom Feuer und einmal vom Sturm, und beide Male wiederaufgebaut worden. Als gut zwanzig Meter hoher, zylinderförmiger Turm aus weißem Stein erhebt er sich trotzig und majestätisch über diesem brüchigen Haufen Sand, wo der Atlantische Ozean auf den Nantucket Sound trifft, dessen Existenz fortwährend bedroht ist von Erosion und orkanartigen Winden. Und der dennoch überlebt.
    Abgesehen von den Möwen und vielleicht ein paar Flötenregenpfeifern erwartet sie, allein hier zu sein. Von Mai bis September, stellt sie sich vor, wimmelt es auf diesem sieben Meilen langen Strandabschnitt von Allradfahrzeugen, Spaziergängern, Familien auf naturkundlichen Wanderungen, Urlaubern. Aber am siebzehnten März ist niemand hier. Sie ist allein. Dreißig Meilen Wasser trennen sie vom Cape Cod im Norden, und etwa dreitausendfünfhundert Meilen Ozean liegen zwischen dem Punkt, an dem sie steht, und Spanien im Osten. Dieser Ort, so scheint es ihr, kommt dem Nirgendwo am nächsten. Und Nirgendwo ist genau der Ort, an dem sie heute sein will.
    In der Vergangenheit, vor nicht allzu langer Zeit, hätte es sie nicht gereizt, so weit weg von irgendjemand oder irgendetwas anderem zu sein. Mehr noch, es
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