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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
Autoren: Jeanette Winterson
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und Nächten erzählt hatte. Andere stimmten mit ein, und bald entdeckte man, dass jeder Leuchtturm eine Geschichte hatte – nein, jeder Leuchtturm
war
eine Geschichte, und das Blitzen selbst waren die Geschichten, die über die Wellen hinausgeschickt wurden, als Wegmarke und Leitfaden und Trost und Warnung.«

Hoch auf dem Fels, vom Wind gespalten,
    fasste die Kirche 250 und war mit 243 Seelen beinahe voll besetzt. Das war die Gesamtbevölkerung von Salts.
     
    Am 2. Februar 1850 hielt Babel Dark seine erste Predigt.
    So lautete sein Text: »Gedenket des Felsens, von dem ihr gehauen, gedenket der Grube, die euch hervorgebracht.«
    Der Wirt des Razorbill war so beeindruckt von dieser erinnerungswürdigen Predigt, dass er sein Gasthaus umbenannte. Von diesem Tag an war er nicht länger der Wirt des Razorbill, sondern Hausherr des Gasthauses Rock and Pit. Üblicherweise benutzen Seeleute gut sechzig Jahre oder sogar noch länger den alten Namen, aber das Haus hieß nun mal Rock and Pit, und so heißt es noch immer und hat noch genau dieselbe, nach innen gewandte, netzbehangene, salzverkrustete, algige Aura der Verlassenheit.
     
    Babel Dark wandte sein privates Vermögen auf, um sich ein stattliches Haus mit ummauertem Garten zu bauen und sich komfortabel einzurichten. Bald sah man ihn in tiefem religiösem Zwiegespräch mit der einzigen blaublütigen Dame der Stadt – einer Cousine des Grafen von Argyll, eine Campbell in der Verbannung, verarmt und mit irgendeinem Geheimnis. Sie war keine Schönheit, aber sie las fließend Deutsch und leidlich Griechisch.
    1851, im Jahr der Weltausstellung, heirateten sie, und Dark fuhr mit seiner neuen Frau nach London in die Flitterwochen, und danach fuhr er nie wieder irgendwo mit ihr hin, nicht mal nach Edinburgh. Wohin er, allein auf einer schwarzen Stute, aufbrach, erfuhr niemand, und niemand ritt ihm nach.
    Hin und wieder gab es nächtliche Vorkommnisse, und in allen Fenstern des Pfarrhauses brannte Licht, es wurde geschrien und Möbel und schwere Gegenstände flogen durch die Luft, aber fragte man Dark, was kaum einer tat, so sagte er jedes Mal, er habe, wie es jeder Mann tun müsse, seine Seele gegen Anfechtungen in Schutz genommen.
    Seine Frau schwieg sich aus, und wenn ihr Mann tagelang verschwunden war oder in seiner schwarzen Kluft hoch oben zu Fuß auf den Felsen gesichtet wurde, musste man ihn in Frieden lassen, denn er war ein Mann Gottes, der keinen Richter anerkannte außer Gott.
    Eines Tages sattelte Dark sein Pferd und ritt davon.
    Einen Monat lang blieb er fort, und als er zurückkam, war er sanfter, gelassener, doch in seiner Miene lag offene Traurigkeit.
    Danach blieb er zweimal im Jahr einen Monat lang verschwunden, aber kein Mensch wusste, wohin er ging, bis sich ein Mann aus Bristol im Razorbill einquartierte, das heißt im Rock and Pit.
    Er war ein argwöhnischer Mann, mit Augen so engstehend, als würden sie einander beschatten, und er hatte eine Art, beim Sprechen sehr unruhig mit Zeigefinger und Daumen vor sich hin zu trommeln. Sein Name war Price.
    Eines Sonntags nach dem Gottesdienst saß Price mit verwirrter Miene vor dem Kamin, und endlich rückte er damit heraus, dass er vor kurzem Babel Dark gesehen haben wollte, und wenn jener Mann da unten in Bristol nicht Dark gewesen sei, gehe es wahrlich mit dem Teufel zu.
    Price behauptete, er habe gesehen, wie Dark in völlig anderer Bekleidung im Clifton-Viertel außerhalb von Bristol in ein Haus gegangen sei. Er sei ihm wegen seiner Größe aufgefallen – hoch gewachsen – und wegen der Haltung – sehr hochmütig. Er habe ihn nie mit jemand anderem zusammen gesehen, immer nur allein, aber er schwöre bei seiner Tätowierung, dass es sich um ein und denselben Mann handelte.
    »Er ist Schmuggler«, sagte einer von uns.
    »Er hat eine Geliebte«, sagte ein anderer.
    »Das geht uns nichts an«, sagte ein Dritter. »Er tut hier seine Pflicht und zahlt seine Rechnungen, und das mehr als anständig. Was er sonst macht, ist eine Sache zwischen ihm und Gott.«
    Wir anderen waren uns da nicht so sicher, aber weil niemand das Geld dafür hatte, ihn zu verfolgen, wusste niemand von uns, ob an Prices Geschichte etwas Wahres dran war oder nicht. Jedenfalls versprach Price, die Augen offen zu halten und sich zu melden, sobald er Dark wiedersah, oder den Mann, der ihm so ähnlich sah.
    »Und hat er’s getan?«
    »Das hat er wohl, aber wir wurden trotzdem nicht schlau draus, was Dark so trieb oder warum.«
    »Du warst
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