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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
Autoren: Jeanette Winterson
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drohen die Felsen, und ein einsames Feuer rettet einem das Leben. Hafenfeuer oder Warnfeuer, welches Feuer spielt keine Rolle; man segelt in Sicherheit. Der Tag bricht an, und man lebt.«
    »Lerne ich dann auch, wie man das Feuer anstellt?«
    »Ja, und wie man fürs Feuer sorgt.«
    »Manchmal höre ich, wie du Selbstgespräche führst.«
    »Ich führe keine Selbstgespräche, Kind, ich arbeite.«
    Pew richtete sich auf und warf mir einen ernsten Blick zu. Seine Augen waren milchig blau wie bei einem Kätzchen. Niemand wusste, ob er schon immer blind gewesen war oder nicht, doch hatte er sein ganzes Leben im Leuchtturm oder auf dem Makrelenboot verbracht, und seine Hände dienten ihm als Augen.
    »Vor langer Zeit, 1802 oder auch 1892, wie du willst, konnten die meisten Seeleute weder lesen noch schreiben. Die Offiziere lasen die nautischen Karten, die Matrosen dagegen hatten ihre eigene Methode. Wenn sie Tarbert Ness oder Cape Wrath oder Bell Rock passierten, hatten sie diese Standorte nie im Sinne von Punkten auf der Karte im Kopf, sondern als Geschichten.Jeder Leuchtturm hatte seine eigene Geschichte – mehr als eine, und wenn man von hier nach Amerika segelt, wird man kein Leuchtfeuer passieren, dessen Wärter nicht eine Geschichte für die Seeleute parat hätte.
    Damals gingen Seeleute so oft wie möglich an Land, und wenn sie im Gasthaus abstiegen und ihre Koteletts verzehrt und ihre Pfeifen angesteckt und den Rum weitergereicht hatten, wollten sie eine Geschichte hören, und immer war es der Leuchtturmwärter, der sie erzählte, während sein zweiter Mann oder die Frau beim Feuer blieb. Diese Geschichten gingen von Mann zu Mann, von Generation zu Generation, schlugen den Bogen um die ganze seefahrende Welt und segelten zurück, anders ausgeschmückt vielleicht, aber es war immer noch dieselbe Geschichte. Und wenn der Leuchtturmwärter seine Geschichte erzählt hatte, erzählten die Seeleute ihre Geschichten, die Geschichten anderer Leuchttürme. Ein guter Leuchtturmwärter war der, der mehr Geschichten kannte als die Seeleute. Hin und wieder gab es auch einen Wettbewerb, und dann rief eine Teerjacke »Lundy« oder »Calf of Man«, und man musste »Der Fliegende Holländer« oder »Zwanzig Barren Gold« zurückrufen.
    Pew war ernst und still, die Augen wie ein fernes Schiff.
    Was für eine Geschichte»Ich kann dir beibringen – ich könnte jedem beibringen –, wofür die Instrumente gut sind, und das Licht wird wie immer alle vier Sekunden aufblitzen, aber ich muss dir beibringen, wie man das Licht instand hält. Weißt du, was das bedeutet?«
    Ich wusste es nicht.
    »Die Geschichten. Du musst die Geschichten lernen. Diejenigen, die ich kenne, und diejenigen, die ich nicht kenne.«
    »Wie soll ich denn die lernen, die du nicht kennst?«
    »Indem du sie selbst erzählst.«
     
    Dann begann Pew von all den Seeleuten zu sprechen, die über die Meere segelten und bis zum Hals im Tod steckten undein letztes Luftloch gefunden hatten, und er sprach die Geschichte wie ein Gebet.
    »Ganz in der Nähe band sich ein Mann auf seinem sinkenden Schiff an eine Spiere. Er war sieben Tage und sieben Nächte auf See, und während ringsum die anderen ertranken, hielt er sich am Leben, indem er sich Geschichten erzählte wie ein Wahnsinniger; sobald eine zu Ende ging, schloss sich gleich die nächste an. Am siebenten Tag hatte er sich sämtliche Geschichten erzählt, die er kannte, und da begann er von sich selbst zu erzählen, als wäre er selbst eine Geschichte, von den ersten Anfängen bis hin zu seinem Schicksal auf tiefgrüner See. Die Geschichte, die er sich erzählte, handelte von einem Mann, der vom Weg abgekommen war und gefunden wurde, und zwar nicht nur einmal, sondern ein ums andere Mal, während er sich keuchend aus den Wellen kämpfte. Und als die Nacht fiel, sah er das Feuer von Cape Wrath, das gerade mal seit einer Woche brannte, aber es brannte, und ihm war klar, wenn er selbst zur Geschichte des Leuchtturms würde, wäre er vielleicht gerettet. Mit letzter Kraft begann er darauf zu zu paddeln, die Arme zu beiden Seiten der Spiere, und in seiner Vorstellung wurde das Feuer zu einem leuchtenden Tau, von dem er sich an Land ziehen ließ. Er griff danach, band es sich um die Taille, und in diesem Augenblick sah ihn der Wärter und rannte zum Rettungsboot.
    Später, als er im Razorbill Quartier bezogen und sich langsam erholt hatte, erzählte er allen, die es hören wollten, was er sich an jenen durchnässten Tagen
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