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Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Titel: Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
Autoren: Jeanette Winterson
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ihr irgendein neuerGedanke den Kopf vernebelt haben, denn auf einmal blieb sie stehen und drehte sich halb um, und in diesem Augenblick kreischte der Wind, und ihr eigenes Kreischen ging unter, als sie ausrutschte.
    Im nächsten Moment war sie schon an mir vorbeigestürzt, und ich klammerte mich an einen unserer stachligen Büsche – ich glaube, es war eine Escallonia, ein salziger Strauch, der dem Meer und den Böen trotzte. Ich spürte, wie sich die Wurzeln langsam lüfteten wie eine Grabplatte. Ich trat mit den Schuhspitzen in den sandigen Hang, doch der Boden gab nicht nach. Wir waren kurz davor, von der Steilwand in eine lichtlose Welt hinabzustürzen.
    Ich hatte keine Kraft mehr, mich festzuklammern. Meine Finger bluteten. Doch als ich die Augen schloss, um mich in die Tiefe fallen zu lassen, schien sich alles Gewicht über mir wieder aufzurichten. Der Strauch bewegte sich nicht mehr. Ich zog mich daran hoch und kroch dahinter.
    Ich sah in die Tiefe.
    Meine Mutter war verschwunden. Träge schlug das Seil gegen den Fels. Ich zog es mir über den Arm heran und rief: »Mama! Mama!«
    Das Seil ließ sich immer schneller heraufholen und brannte sich in mein Handgelenk, während ich es neben mir aufwickelte. Dann kam die Doppelschnalle. Dann der Gurt. Sie hatte den Gurt losgemacht, um mir das Leben zu retten.
    Zehn Jahre zuvor hatte es mich durch den leeren Raum geschleudert, damit ich durch die Rinne ihres Körpers auf die Erde gelangte. Und jetzt war sie durch eine andere Art Leere geschleudert worden, und ich durfte ihr nicht folgen.
    Sie war fort.
     
    In Salts pflegt man eigene Bräuche. Nachdem sich herumsprach, dass meine Mutter tot und ich auf mich selbst gestelltwar, besprach man untereinander, was aus mir werden solle. Ich hatte keine Verwandten und keinen Vater. Ich hatte kein Geld geerbt und konnte nichts mein Eigen nennen, bis auf ein schräges Haus und einen Hund mit unterschiedlich langen Beinen.
    Per Abstimmung wurde beschlossen, dass die Lehrerin, Miss Pinch, die Sache in die Hand nehmen solle. Sie war den Umgang mit Kindern gewohnt.
     
    Am ersten trostlosen Tag alleine begleitete mich Miss Pinch, um meine Sachen aus dem Haus zu holen. Viel war es nicht – hauptsächlich Fressnäpfe und Hundekuchen und den
Collins Weltatlas
. Ich wollte auch ein paar Sachen von meiner Mutter mitnehmen, aber Miss Pinch hielt das für unklug, obgleich sie nicht sagte, weshalb es unklug sei oder weshalb es von Vorteil wäre, klug zu sein. Dann schloss sie hinter uns ab und ließ den Schlüssel in ihre sargförmige Handtasche fallen.
    »Mit einundzwanzig darfst du ihn wieder in Empfang nehmen«, sagte sie. Sie klang wie eine Versicherungspolice.
    »Wo werde ich denn bis dahin wohnen?«
    »Ich werde Erkundigungen einholen«, sagte Miss Pinch. »Diese Nacht kannst du bei mir in Railings Row verbringen.«
    Railings Row war eine Reihenhaussiedlung, die ein Stück von der Straße zurückgesetzt lag. Aus schwarzem Backstein und salzgefleckt, mit abblätternder Farbe, die Messingteile grün, ragte sie in die Höhe. Die Häuser gehörten einmal wohlhabenden Kaufleuten, aber es war lange her, dass jemand in Salts zu Wohlstand gekommen war, und inzwischen waren die Häuser alle mit Brettern vernagelt.
    Auch das Haus von Miss Pinch war mit Brettern vernagelt, weil sie einen Einbruch nicht herausfordern wollte.
    Sie zerrte an dem aufgeweichten Stück Schiffssperrholz über der Haustür und öffnete die drei Sicherheitsschlösser derZwischentür. Dann traten wir in einen düsteren Flur, und sie verschloss und verriegelte hinter uns die Tür.
    Wir betraten ihre Küche, und ohne mich zu fragen, ob ich Hunger hatte, stellte sie mir einen Teller Salzheringe hin, während sie sich ein Ei briet. Wir aßen, ohne ein einziges Wort zu sprechen.
    »Hier schläfst du«, sagte sie, als die Mahlzeit vorbei war. Sie stellte zwei Küchenstühle auf, Sitzfläche an Sitzfläche, und auf die eine legte sie ein Kissen. Dann holte sie eine Daunendecke aus dem Schrank – eine dieser Daunendecken, die außen mehr Federn haben als innen, eine dieser Daunendecken, deren Füllung von einer einzigen Ente stammt. Den Beulen nach zu urteilen hatte man in dieser Decke die Ente als Ganzes untergebracht.
    Also legte ich mich unter die Entenfedern und die Schwimmfüße und den Entenschnabel und die glasigen Entenaugen und den Entenbürzel und wartete, bis es Tag wurde.
    Wir haben Glück, sogar die Schlimmsten von uns, denn es wird immer wieder Tag.
     
    Dann
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