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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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Feuer. Der kleine Elf zitterte vor Kälte. Das sah der Mann auch von Weitem. Er kehrte um und deckte den Kleinen wieder mit der Jacke zu und schürte das Feuer an. Schließlich ging er los. Auf halbem Weg den Hügel hinunter drehte er sich um und sah auf die beiden Häufchen beim Feuer. Er legte eine halbe Meile zurück, dann drehte er sich noch einmal um. Das Licht der Flammen mischte sich mit den Strahlen der aufgehenden Sonne, die sich zum ersten Mal seit Monaten ein paar Minuten lang am Horizont blicken ließ: Auch aus dieser Entfernung konnte er die beiden noch erkennen. Der Mann blieb stehen und betrachtete sie lang, dann machte er kehrt und ging langsam, Schritt für Schritt, zurück.
    Er setzte sich auf einen Stein und wartete.
    Der kleine Elf wachte als Erster auf.
    Ein gellender Schrei erscholl und hallte durch die Sümpfe. Ein Schrei, der den Schmerz der ganzen Welt in sich trug.
    Lang schrie der kleine Elf über diesen grauenhaften Lumpen aus den Häuten von Kadavern. Sein Schrei zog sich in die Länge, andere Schreie folgten nach, mischten sich unter das Echo der vorherigen, währenddessen brach die Sonne durch die Wolken, verschwand wieder, kam wieder hervor, bis es erneut zu regnen begann.
    Sie machten sich auf den Weg. Eine Wachtelfeder segelte durch die Luft, und der Elf erkannte sofort - am Geruch oder vielleicht an den Gedanken, die sie in ihm wachrief, das war den Menschen nicht klar -, dass sie von einer toten Wachtel stammte, und es folgte ein lang anhaltendes, herzzerreißendes Wehklagen.
    Ganz in seinen Kummer versunken, übersah der Kleine eine Wurzel, stolperte und fiel hin: Es folgte ein langes Gewimmer, das sich bis Mittag hinzog. Da drohte der Jäger, ihn auf einen Spieß zu stecken, wenn er nicht aufhörte, und das löste ein hohes, verschrecktes Gepiepse aus, das bis zum Abend anhielt.
    Es war noch nicht lange dunkel, da bemerkte der kleine Elf, dass er beträchtlichen Hunger hatte. Es war eine Art von Hunger, der im Bauch entstand und zu Kopf stieg, wobei er seinen Weg über die kalten Füße und irgendwie auch über die eisigen Ohren nahm. Er erging sich lang und breit in der Beschreibung des Gefühls, das er in sich trug, ohne entscheiden zu können, ob es sich dabei bloß um eine Leere, einen Mangel oder um eine echte Erscheinungsform des Bösen handelte.
    Von da kam die Rede auf das Leiden im Allgemeinen, von dem auch nicht klar war, ob es eine Erscheinungsform des Bösen an sich oder einfach nur ein Mangel an Freude war, genauer gesagt, eigentlich an Wohlbefinden, denn der Mangel an Wohlbefinden ist im Allgemeinen ein schlimmeres Leiden als der Mangel an Freude, welcher, für sich betrachtet, ja eine ganz erträgliche Situation, um nicht zu sagen die Normalität darstellen kann. Im Allgemeinen. Während, was das Leiden als Erscheinungsform des Bösen an sich anging, hatte er ihnen schon erzählt, wie er sich am rechten Fuß einen Dorn unter den Nagel des großen Zehs eingezogen hatte? Oder war es der linke Fuß gewesen? Ach nein, es war der rechte, jetzt, bei genauerem Nachdenken, war er sich sicher, er hatte sich den Dorn eingezogen und Großmutter hatte ihn mit einer Nadel herausgeholt, mit einer NADEL! Es wurde ihm jetzt noch ganz schlecht, wenn er daran dachte, das war entsetzlich gewesen, ENTSETZLICH! Und dann einmal, als er hingefallen war und sich den Ellbogen aufgeschlagen hatte. Das Blut war aus seinem Inneren herausgeflossen und hatte sich draußen ausgebreitet. Eine grauenhafte Sache, GRAUENHAFT! Der linke Ellbogen. Der Nagel dagegen war der vom rechten großen Zeh: Jetzt war er sich wieder ganz sicher. Er hatte auch eine Narbe davon behalten, am Ellbogen, meinte er. Ob sie sie sehen wollten? Die Narbe. Ganz sicher, dass sie sie nicht sehen wollten?
    Während der Kleine des Langen und des Breiten erzählte, wie er zum dritten Mal erkältet gewesen war und wie viel Schleim, welcher Farbe und welcher Dichte er in den verschiedenen Phasen des Krankheitsverlaufs durch die Nase abgesondert hatte, kamen sie an grünen Sträuchern vorüber, in denen sowohl die Frau als auch der Mann Rosmarin erkannten. Von diesem Augenblick an verstummte der kleine Elf, zum ersten Mal seit dem Morgen.
    Da, während sie an einem Hügel entlang durch Kastanien- und Lärchenwälder gingen, tauchte hinter einer Wegbiegung plötzlich Daligar vor ihnen auf. Es lag auf dem Grund eines kleinen Tals zu beiden Seiten eines Flüsschens, das Hochwasser führte. Es wirkte wie eine Stadt aus dem Märchen.
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