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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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Da waren viele, viele Häuser und alle hatten Lichter in den Fenstern, sodass die spitzen, scharfkantigen Holzpfähle, mit denen die Außermauern gespickt waren, gut zu erkennen waren. Alle Fenster spiegelten sich im dunklen Wasser, und als ob das nicht genug wäre, gab es auch noch Feuer, eines an jeder Schießscharte der Türme, die sich in Abständen in der Stadtmauer erhoben. Auf den Mauern selbst brannten Fackeln, alle sechs Schritt eine, jeweils dort, wo paarweise Armbrustschützen postiert waren, und alle diese Lichter spiegelten sich im Wasser des Stadtgrabens. Die Zugbrücke war hochgezogen, und wie Stadtmauern und Türme war sie mit spitzen, nach außen gerichteten Pfählen bewehrt, was dem Städtchen das Aussehen eines riesigen Stachelschweins verlieh.
    Der Jäger blieb stehen und betrachtete das Ganze.
    »Die scheinen ja nicht eben freundlich gesinnt zu sein«, bemerkte er.
    »Doooch!«, wandte der Kleine ein. »Die Leute zünden Lichter an, wenn sie Freunde erwarten. Wo es so viele Kerzen gibt, da gibt es auch Maiskolben. Es muss schön sein dort! Bestimmt gibt es dort Tische mit Maiskolben darauf und auch Kastanien, und dann die vielen Kerzen! Vielleicht haben sie auch Teller. Womöglich ein richtiges Bett. Große Kamine. Gehen wir hin?«
    »Nein, jetzt schlafen wir erst und morgen ziehen wir im großen Bogen um die Stadt herum.«
    »Wieso?«
    »Weil ihre freundliche Zugbrücke so festtagsmäßig beleuchtet und so gut verriegelt ist wie eine verschlossene Muschel. Weil das einer von den Orten zu sein scheint, in die man nur schwer hinein- und noch schwerer wieder herauskommt.«
    »Was ist eine Muschel?«
    »Sie lebt im Meer, dem großen Wasser jenseits der Schattenberge.«
    »Kann man sie essen?«
    »Um Himmels willen, nein! Muscheln sind Lebewesen, sie werden geboren, denken und schreiben recht passable Gedichte. Aber ganz abgesehen von Zugbrücke und Wehrzäunen, du bist ein Elf und Elfen dürfen nur an ›Elfenplätzen‹ sein und das ist dieser hier nicht. Wenn wir uns mit dir blicken lassen, enden wir noch vor dem nächsten Morgengrauen aufgeknüpft an einem dieser Türme. Auf das Ende, das du nehmen würdest, möchte ich lieber nicht näher eingehen. Mit solchen wie dir, die sich abseits von den Elfenplätzen erwischen lassen, nimmt es ein böses Ende, weißt du das? Aber ein wirklich böses Ende!«
    Sie legten ihre Bündel ab und begannen, Holz und Pinienzapfen für das Feuer zu sammeln. Der Jäger schnitt zwei große Äste ab und lehnte sie so gegeneinander, dass sie einen winzigen Unterschlupf bildeten, eine Art Höhle, die sie ein wenig vor der nächtlichen Kälte schützte. Die Frau suchte Moos, Farn und trockene Gräser zusammen, um den Boden auszupolstern, sodass sie auf dem Weichen schlafen konnten.
    »Übrigens«, sagte die Frau. »Die Elfen sind vor undenklichen Zeiten schon an die Elfenplätze gebracht worden. Ich glaube, es gibt gehörige Strafen, wenn einer von euch sich außerhalb davon aufhält. Wie kommt es, dass du so ganz allein durch die Welt ziehst?«
    »Der Elfenplatz, an dem ich lebte, ist untergegangen«, antwortete der Kleine. Bei dem Gedanken wurde ihm weh ums Herz. Sein Gesicht war wieder ganz eingefallen, und seine Augen hatten vor Traurigkeit alle Farbe eingebüßt, waren von einem eintönigen Grau, in dem das Blau sich verlor wie die Farbe des Himmels in einer Pfütze.
    »Ist er überschwemmt worden? War überall Wasser?«
    »Ja, alles war unter Wasser; und dann hat Großmutter gesagt, ich soll gehen.«
    »Gehen wohin?«
    »Ich weiß nicht. Gehen.«
    »Aber konnte deine Großmutter nicht ein bisschen zaubern? Was weiß ich, das Wasser erhitzen und verdunsten lassen, wie im Sommer die Pfützen verdunsten, etwas in der Art.«
    »So etwas kann man nur mit ein klein wenig Wasser machen, mit einem Topf voll Wasser. Nicht wenn so viel Wasser ist, dass es die ganze Welt überschwemmt. Und dann war meine Mama ja schon dorthin gegangen, von wo niemand wiederkehrt. Für mich war sie meine Mama, aber für Großmutter war sie die Tochter. Und Großmutter hat nicht mehr gezaubert. Wenn jemand zu viel Traurigkeit in sich hat, ertrinkt die Zauberkraft darin, wie Menschen im Wasser. Großmutter wusste aber, wie es geht. Wenn du nur fest an die Dinge denkst, sagte sie, werden sie wahr. Aber wenn in dir drin die Traurigkeit steckt, kommt nur Traurigkeit aus deinem Kopf. Du bist traurig und kannst nicht einmal mehr Feuer machen. Wir hatten Feuer, weil im Herd immer welches war. Wäre es
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