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Tote Wasser (German Edition)

Tote Wasser (German Edition)

Titel: Tote Wasser (German Edition)
Autoren: Ann Cleeves
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Kapitel 1
    J immy Perez blieb stehen, um Atem zu holen, und sah aufs Meer hinaus. Es war ein ruhiger, windstiller Tag, hohe Wolken filterten das Licht, und das Wasser glänzte hellgrau, wie Metall. Am Horizont waberte eine Nebelbank. In den tiefen Taschen der langen Öljacke, die einst seinem Großvater gehört hatte, lagen hühnereigroße Kieselsteine. Sie waren rund und glatt und so schwer, dass er spüren konnte, wie ihr Gewicht an seinen Schultern zerrte. Er hatte die Steine am Strand von Ravenswick aufgesammelt, hatte sie sorgfältig ausgewählt: nur die ganz runden, die so weiß waren wie Knochen. In einiger Entfernung, ein Stückchen vom Ufer weg, ragte ein Fels empor, der an ein zur Seite geneigtes Kreuz erinnerte. Das ruhige Wasser schlug kaum daran an.
    Perez ging weiter, zählte im Kopf die Schritte. Seit Frans Tod beging er an den meisten Tagen das gleiche Ritual: Er sammelte Kieselsteine am Strand in der Nähe ihres Hauses und brachte sie dann hierher, an ihren Lieblingsplatz auf den Shetlands. Teils war es Buße, teils Pilgergang. Teils die Besessenheit eines Wahnsinnigen. Er rieb mit dem Daumen über die Steine, und die Berührung verschaffte ihm einen eigentümlichen Trost.
    Auf dem Hügel grasten ein paar Mutterschafe mit ihren Lämmern, die noch sehr wacklig auf den Beinen waren. Hier oben im Norden lammten die Schafe spät, nicht vor April. Neues Leben. Die Nebelbank kam näher, doch in der Ferne, auf dem höchsten Punkt der Landspitze, konnte er den kleinen Hügel sehen, den er mit seinen in Ravenswick gesammelten Steinen errichtet hatte. Eine Gedenkstätte für die Frau, die er geliebt hatte und deren Tod noch immer auf seinem Gewissen lastete, ihn noch immer niederdrückte.
    Während er weiterging, rief er sich die Etappen ihrer Liebe ins Gedächtnis, die Jahreszeiten ihrer Leidenschaft. Auch das gehörte zu dem Ritual, das er bei jedem Besuch hier beging. Im Winter war er ihr das erste Mal begegnet, alles war verschneit, und am klaren Winterhimmel taumelten hungrige Raben. Im Sommer hatte er mit ihr geschlafen, als die Seevögel auf den Klippen kreischten und sich die Wiese um ihr Haus in einen Teppich aus Wildblumen verwandelt hatte. Im Frühjahr hatte sie ihn gefragt, ob er sie heiraten wolle. Er blieb einen Augenblick stehen, die Erinnerung daran machte ihn schwindlig, der Himmel schien zu kippen und um seinen Kopf zu kreisen, und er wusste nicht mehr, wo das Meer endete und wo der Himmel begann. Ihr spitzbübisches Lächeln. «Na, Jimmy? Was hältst du davon?» Und im Herbst war sie ums Leben gekommen, in einem Sturm, der sein Elternhaus auf Fair Isle fast zerstört hätte, der die Gischt hoch in die Luft gepeitscht und sie vom Rest der Welt abgeschnitten hatte.
    Ich habe den Verstand verloren, dachte er. Ich werde nie wieder bei Sinnen sein.
    Von dem Steinhügel aus konnte er bis nach North Mainland schauen. Fran hatte diese Aussicht geliebt, sie hatte gesagt, hier erfasse man die Shetlands mit einem Blick, ihre Kargheit wie ihre Schönheit, den Reichtum, der vom Meer kam, und das öde, kahle Land. Die Vergangenheit und die Zukunft. In der Ferne, in einer langgezogenen Bucht, lag das Ölterminal von Sullom Voe, das in diesem seltsam silbrigen Licht beinahe wie eine verwunschene, eine versunkene Stadt aussah. Überall Land und Wasser und Land, das sich im Wasser spiegelte. Im Süden eine Reihe riesiger Windräder, deren Flügel jetzt still standen. Unter ihm die Siedlung Hvidahus, drei Puppenhäuschen und ein Pier und, fast ganz in den Bäumen verborgen, das Heimatmuseum von Vatnagarth, wo sein Auto stand.
    Es war auf den Tag genau sechs Monate her, dass Fran ums Leben gekommen war. Ich sollte besser nicht mehr hierherfahren, überlegte er. Erst wenn Frans Tochter Cassie alt genug war, alles zu verstehen, erst wenn er sich in der Lage fühlte, ihr diesen Ort zu zeigen, wollte er wiederkommen. Er hoffte, dass der Gedenkhügel dann immer noch da sein würde.
    Er stieg den Hang hinab und wurde vom Nebel, der wie ein Tümpel das tiefer gelegene Gelände bedeckte, verschluckt, sodass ihm war, als müsse er ertrinken. Der Museumsparkplatz, auf dem bei seiner Ankunft noch kein Auto gestanden hatte, war jetzt voll, und aus einer der Scheunen kam Musik, die Fenster waren erleuchtet – rechteckige Monde, die das Dämmerlicht durchdrangen. Die Musik lockte ihn näher, und er musste an die Volkssagen aus seiner Jugend denken, an die Trolle, die Sterbliche mit ihrem Geigenspiel verführten und ihnen
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