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Der Letzte Bus Nach Woodstock

Der Letzte Bus Nach Woodstock

Titel: Der Letzte Bus Nach Woodstock
Autoren: Colin Dexter
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fand ich zufällig letzten Freitag. Es gibt im Krankenhaus eine Vorschrift, die verbietet, an das Pflegepersonal Privatgespräche weiterzuvermitteln. Ich habe es selbst vergeblich versucht. Die Oberschwester hat das eingeführt. Sie ist ein ziemlicher Dragoner …«
    »Also mußte er ihr schreiben. Aber warum nun über Jennifer?«
    »Er hätte ihr natürlich direkt schreiben können, aber ich nehme an, es war ihm inzwischen zur Gewohnheit geworden, seine Nachrichten an Sue Widdowson über Jennifer laufen zu lassen. Ursprünglich war der Grund dafür die säumige Postzustellung. Wir klagen ja alle darüber, aber in Nord-Oxford ist es wohl besonders schlimm. Der Briefträger kommt dort kaum vor zehn Uhr; für alle, die berufstätig sind, ist das natürlich viel zu spät. Und ins Krankenhaus konnte er ihr nicht schreiben, Privatpost zu empfangen, ist dort ebenfalls verboten.«
    »Aber sie hätte seinen Brief doch auf jeden Fall abends zu Hause vorgefunden. Hätte das denn nicht gereicht?«
    »Eine gute Frage, Lewis. Sehen Sie, Collegedozenten wie Crowther haben gewöhnlich keine feste Arbeitszeit. Jeder Tag sieht anders aus, da gibt es mal dies, mal jenes zu erledigen. Oft kommt etwas Unerwartetes dazwischen – disziplinarische Angelegenheiten, unangemeldete Besucher, eine überraschend angesetzte Konferenz. Er konnte deshalb seine Treffen mit Sue Widdowson nie mit letzter Gewißheit planen. Aber vor allem mußte er natürlich auf seine Familie Rücksicht nehmen. Vielleicht hatte Margaret plötzlich etwas anderes vor, oder eines der Kinder wurde unverhofft krank. Es gab viele Unwägbarkeiten. Alles mögliche konnte seine Verabredungen über den Haufen werfen. Oft wußte er vielleicht erst am Tag vorher, ob er sie wirklich würde sehen können.«
    »Aber Jennifer konnte Sue den Brief doch auch erst abends geben. Wo lag denn da der Vorteil?«
    »Sie meinen, da hätte er ihn auch genausogut mit der Post schicken können? Sie hätten recht, Lewis, wenn die beiden sich immer erst abends gesehen hätten. Tatsächlich waren sie aber ziemlich regelmäßig zum Mittagessen miteinander verabredet. Die Teestube, wo sie sich trafen, liegt gleich neben Marks & Spencer . Ich bin selbst dagewesen.« In seinen letzten Worten schwang ein melancholischer Ton mit, der Lewis aufhorchen ließ. Morse hatte da vorhin so etwas gesagt. Es hatte fast den Anschein, als ob …
    »Dann war also Jennifer Coleby über alles im Bild, Sir?«
    »Über alles wohl nicht. Aber sie wußte schon eine ganze Menge. Jedenfalls mehr, als sie uns gesagt hat. Ich denke …« Er schwieg einen Augenblick, und als er weitersprach, klang seine Stimme plötzlich viel energischer. »Wie es dazu kam, darüber kann ich natürlich nur Vermutungen anstellen. Sicher ist, daß Jennifer und Sue Widdowson sich irgendwann gegenseitig ins Vertrauen gezogen haben müssen. Meiner Erfahrung nach fällt es Frauen – und übrigens auch Männern – schwer, auf Dauer über eine Liebschaft den Mund zu halten. Es drängt sie, darüber zu sprechen, vielleicht, um ein bißchen damit anzugeben. Angefangen hat es möglicherweise mit einer vorsichtigen Andeutung, und dann stellten sie auf einmal fest, daß sie sich beide in einer ähnlichen Lage befanden, und das hat vermutlich ein verschwörerisches Gefühl der Verbundenheit zwischen ihnen erzeugt. Crowther wird von Sue erfahren haben, daß Jennifer über sie Bescheid wußte. Ich nehme an, die Idee, seine Briefe an sie zu adressieren, stammte von ihm. Vielleicht hatte er des öfteren nicht mehr rechtzeitig absagen können, und es hatte deswegen Spannungen zwischen ihnen gegeben. Aber er wird den Vorschlag nicht nur aus praktischen Gründen gemacht haben. Ich kann mir gut vorstellen, daß diese Art der Kommunikation über eine Mittelsperson, einschließlich der in die Briefe eingefügten verschlüsselten Botschaften, für ihn einen gewissen romantischen Reiz besaß, den er kultivierte und genoß. Anfänglich hat er vielleicht nur in wirklich dringenden Fällen diese Möglichkeit gewählt, aber im Laufe der Zeit wird es dann wohl zur Gewohnheit geworden sein, und zwar so sehr, daß er sich dieses Weges selbst im Augenblick der Gefahr bediente, ohne weiter darüber nachzudenken. Das ganze Versteckspiel hatte übrigens darüber hinaus für Crowther noch den immensen Vorteil, daß er auf diese Weise darum herumkam, wirkliche Liebesbriefe an Sue zu schreiben. Das muß ihn sehr entlastet haben; denn was passiert nicht alles mit Briefen? Sie
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