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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wieder seinen schwarzen Anzug anlegte. »Andrej, du gehörst mir. Weißt du das?«
    »Ich bin ein freier Arzt, Zarin.«
    »Wo warst du gestern den ganzen Tag?«
    »In meinem Laboratorium. Im Wald, im Garten. Dann habe ich neunzehn Kranke untersucht. Hofbeamte.«
    »Auch Frauen?«
    »Drei Hofdamen.«
    »Wer sind sie? Ich lasse sie auspeitschen!« Marja sprang vom Bett, schnellte zu ihm hin wie eine Wildkatze und warf ihn mit ihrem Gewicht auf den Boden. Sie krallte die Finger in sein Haar. »Du berührst nur noch mich, hörst du!« schrie sie. »Keinen anderen Körper faßt du mehr an! Du bist mein Arzt, mein Arzt!«
    Plötzlich lag sie still, umfaßte sein Gesicht und küßte ihn. Dann weinte sie vor Glück. Trottau trug sie zum Bett und streichelte diesen herrlichen Körper, bis Marja einschlief wie ein Kind, dem man ein Märchen erzählt.
    Fünf Tage nach der Blendung der drei Leibeigenen ließ die Zarin gegen Mittag ihren Arzt zu sich rufen. »Die dicksten Wände haben Ohren, und die Blindesten können sehen«, sagte sie zu Trottau, als er mit seiner Medizintasche vor ihr stand. »Man beobachtet uns, Andrej.«
    »Wir sollten vorsichtiger sein, erhabene Zarin. Unterbrechen wird die nächtlichen Konsultationen.«
    Trottau packte seine Medizinfläschchen aus. Er baute sie immer auf – eine Mauer gegen alle Verdächtigungen. Eine erbärmliche, dünne Mauer war es, aber noch schützte sie ihn.
    »Eher vernichte ich ganz Moskau!«
    »Ein toter Liebhaber ist ein schlechter Liebhaber, Zarin.«
    »Sie alle denken, sie wären klug, sie könnten uns überraschen! Idioten alle!« Sie zog Trottau neben sich auf das Bett und holte unter den dicken Fellen ein großes Blatt Papier hervor. Es zeigte einen Plan mit vielen gewundenen Gängen, ein Labyrinth von Kammern, Fluren und Treppen. »Weißt du, was das ist? Die Stadt unter dem Kreml! Gänge, die kaum einer kennt, Treppen, die noch keiner begangen hat …«
    Sie wischte mit der Hand über den Plan. »Das alles hier liegt unter dir. Hier unter der Erde. Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis zwei Leibeigene diesen Plan gezeichnet haben. Ich bin sie alle abgegangen, diese Gänge. Sieben führen zu dieser Treppe, siehst du sie? Und diese Treppe endet im Schreibzimmer des Zaren. Dort ist im Boden eine Falltür eingelassen. Man kann den Kreml verlassen, ohne gesehen zu werden. Dieser Gang hat einen Ausgang zum Garten. Ein dichter Busch verbirgt ihn, die Tür ist mit Gras bewachsen.«
    Marja legte den Arm um Trottaus Schulter. »Sieh es dir genau an, mein blonder Bär … Es ist dein Weg zu mir, auf dem dich keiner mehr sehen wird.«
    Trottau studierte den verwirrenden Plan. Er ging hinüber ins Zimmer des Zaren, hob die Falltür hoch und kletterte die feuchte Steintreppe hinunter. »Gib mir eine Fackel«, sagte er. »Ich habe mir den Weg gemerkt. Ich werde im Garten wieder herauskommen. In einer Stunde schicke ich dir einen Diener.«
    »Kommt er in einer Stunde nicht, jage ich einen ganzen Trupp Strelitzen in die Tiefe.« Die Zarin riß zwei Fackeln aus den Eisenringen, zündete sie an und reichte sie Trottau hinunter. Er nahm sie und ging vorsichtig den Gang entlang. Obwohl er sich den Plan eingeprägt hatte, begann er zu zählen. Drei Quergänge hatte er schon gekreuzt. Er war stehengeblieben und hatte hineingeleuchtet. Es waren Gänge wie dieser, der im Garten enden sollte: nackte Steinwände, von denen Wasser tropfte, Modergeruch, faulige Kälte, eine bedrückende Stille.
    Das hier ist ein riesiges Grab, dachte Trottau. Wer hat es angelegt?
    Er ging weiter. Beim vierten Quergang bog er links ab; kam nach genau neunzig Schritten an eine Treppe, die eine dicke Eisentür verschloß. Drei Riegel sicherten sie. Trottau schob die verrosteten Eisen zurück und drückte mit der Schulter die Tür hoch.
    Trottau sah Gras, einen Zweig, Sonne auf einer einzelnen kleinen, zaghaften Blume. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Gewicht der Tür, wälzte sich unter ihr hindurch ins Freie – und lag mitten in einem Busch am Rande des Gartens hinter dem Zarenpalast.
    Um Marja zu überraschen, lief Trottau nicht zu seiner Wohnung, sondern kehrte in die Unterwelt zurück bis zur Treppe unter dem Zarenzimmer. Plötzlich stand er vor der Zarin, die heruntergebrannten Fackeln in den Händen. »Mein blonder Bär«, sagte Marja zärtlich. »Wir haben den Weg in den Himmel gefunden …«
    Sie ahnte nicht, daß sie der Hölle viel näher waren.
    Neun Nächte benutzte Trottau die unterirdischen Gänge,
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