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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Er bot ihm Wein, Honiggebäck und Früchte an, setzte sich dann auf einen mit Fellen bezogenen Diwan und blickte Trottau fragend an. »Wird sie sterben?«
    »Wer?« fragte Trottau zurück.
    »Du weißt, wen ich meine. Du hast sie untersucht.«
    »Nein, sie wird nicht sterben.« Trottau beugte sich über die Schale mit Früchten, um sein Gesicht zu verbergen. Alle hassen sie, dachte er. Wenn sie beten, flehen sie Gott an: Herr, erlöse uns von ihr! Ist sie solch ein Teufel? Ich habe sie anders gesehen – wie einen klaren, warmen Teich, in dem man baden kann.
    »Ist sie sehr krank?«
    »Nein. Ihr fehlt nur Luft.«
    »Wird man denn von Luft gesund?« Der Zarewitsch sah Trottau erstaunt an. »Eine sehr einfache, billige Medizin.«
    »Es gibt so billige Heilmittel, die keiner sieht, weil sie so alltäglich sind. Jeder kann sie kaufen. Der ärmste Muschik, der Bettler in der Gosse …«
    »Nur ein Zar nicht, das wolltest du doch damit sagen! Nenn mir einige dieser Medizinen!«
    »Sonne, Wind, Schnee. Fließendes Wasser, ein atmender Wald …«
    »Ein atmender Wald? Du bist ein Dichter, Trottau.« Der Zarewitsch lächelte traurig. »Ein Baum ist ein totes Ding.«
    »Ein Baum ist hundertfaches Leben.« Trottau trat an den Zarewitsch heran. Er sah ihm in die Augen, strich dann über das bleiche Gesicht und das stumpfe braune Haar. »Wenn du nicht an der Schwindsucht sterben willst, du Zar von morgen, dann geh an die Luft. Renn durch den Wald und atme – atme – atme! Spring in einen Fluß und schwimme, bis die Muskeln schmerzen. Lerne gehen, lerne, wozu Gott dir eine Lunge gegeben hat, zwei Beine mit Sehnen, die sie strecken und beugen können. Und bleibe in einem Wald stehen, breite die Arme weit aus und schrei es hinaus: Ich umarme dich, Welt! Es hört dich keiner im Wald – und deine Lunge wird es dir danken. Sie wird sich aufblähen mit reiner, köstlicher Luft und alles Gift aus sich heraustreiben.«
    »Gift?« Der Zarewitsch sprang auf. »Man will mich vergiften? Und du weißt es, Trottau? Wer ist es?«
    Trottau drückte ihn an den Schultern wieder hinunter auf den Diwan. »Ihr vergiftet euch alle selbst. Vor euch liegt das schönste Land der Erde, und ihr verkriecht euch hinter Steinmauern. Ihr verhüllt eure Körper mit Pelzen, wenn die Sonne scheint, ihr bratet am Feuer, wenn es schneit. Warum?«
    »Warum?« Der Zarewitsch schüttelte die Hände des Arztes ab. »Soll die Natur uns umbringen?«
    »Macht euch die Natur Untertan!« Trottau ging zu dem hohen Fenster und stieß es auf. Kühle Abendluft strömte ins Zimmer.
    Der Zarewitsch hob fröstelnd die Schultern.
    »Ihr friert? Wie wollt Ihr einmal das größte Reich dieser Erde regieren, wenn ein Luftzug Euch umwirft?«
    »Ich werde mich in den Wind stellen!« Der Zarewitsch sprang auf. »Ich werde im Schnee baden und durch die Wälder laufen wie der Elch. Aber wenn ich huste, Trottau, wenn mich das Fieber packt – dann hängst du!« Er ging ans Fenster und stellte sich in den Abendwind, der über die Kremlmauer sprang. »Du wirst nicht alt werden in Moskau, Trottau. Spätestens zwei Tage nach der Rückkehr meines Vaters werden sie dir dort vor der Mauer den Kopf abschlagen.« Er reckte sich im Wind, atmete tief ein. »Wie wirst du die Zariza behandeln?«
    »Wie Euch. Wasser, Luft und Sonne …«
    Und Liebe, dachte Trottau. Aber das auszusprechen, wäre ein Todesurteil gewesen.
    In der Nacht rief Marja wieder ihren Arzt zu sich. Trottau blieb bis zum Morgen. Dann ließen sie eine Kutsche anschirren und fuhren zusammen hinaus in die Wälder um Sagorsk. Bis zum Kloster ritten vier Reiter voraus, und acht folgten der Kutsche. Dann befahl die Zarin, daß man sie allein lassen sollte. Nur Trottau begleitete sie, und sie gingen tiefer hinein in den lichtdurchfluteten Birkenwald.
    Als sie glaubte, weit genug entfernt von allen Menschen zu sein, blieb Marja stehen. »Küß mich«, sagte sie glücklich. »O Andrej, ich bin ein neuer Mensch geworden!«
    Sie umarmten sich und gingen dann weiter, umschlungen wie alle Liebespaare, Hand in Hand, mit hämmernden Herzen und dem trügerischen Wahn, diese Welt könne durch Liebe zum Paradies werden.
    Hinter einer Baumgruppe, verdeckt durch wildwuchernde Büsche, beobachtete der Bojare Jurij Alexandrowitsch Schemski seine Zarin und den deutschen Arzt. Neben Schemski hockten drei seiner Diener, schwere Reiterpistolen in den Händen.
    »Merkt euch gut, was ihr seht«, flüsterte Schemski. »Vergeßt es nicht!« Sein Herz hämmerte.
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