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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Giusi Marchetta
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friedfertigen Down-Fälle und die geistig leicht Zurückgebliebenen, denen du alles zehnmal erklären musst, ehe sie es begreifen. Aber die, meine Herrschaften, sind ein Segen.«
 
    Loredana erklärt an der Tafel, das stumpfe Knirschen der Kreide erfüllt das Klassenzimmer. Mein Platz ist vorerst die Fensterbank.
    Riccardi hat ein Blatt und Buntstifte hervorgeholt und zeichnet; ab und zu presst er die Hände gegen die Bank und drückt sich schaukelnd nach hinten.
    Ich tue so, als würde ich dem Unterricht lauschen und alle beobachten, aber es ist er, den ich knurren höre, er, den ich mit dem Bleistift Furchen auf einem zerknitterten Blatt ziehen sehe. Er ist der einzige blonde Junge in der Klasse und einer der größten. Er hat dieselbe Augenform wie Tommaso, jenen durch zu tief herabgezogene Augenbrauen verschatteten Blick, und die Lippen halb geöffnet. Je mehr er schaukelt, desto regungsloser sitzen die anderen da.
    Der Moment der Beobachtung ist einer der heikelsten, man darf keinen Fehler machen, muss sich alles zweimal aufschreiben, wenn nötig. Ich hole mein Ringbuch aus der Tasche, notiere mir alles: die krumme Haltung, die kurzen, nervösen Blicke, die er in meine Richtung und in die der Klassenkameraden schleudert, das Rinnsal von Speichel, das ihm aus einem Mundwinkel fließt und das er sich mit dem Ärmel seines Pullovers wegwischt.
    Du hast Angst davor, zu ihm hinzugehen , höre ich Biagini in meinem Kopf sagen.
    Sogleich klappe ich mein Notizbuch zu und schlendere durch die Bankreihen. Riccardi schaukelt und schaut zum Fenster hinaus, zeigt auf etwas Unsichtbares, verfolgt es eine Weile mit den Augen und boxt dann mit der Faust dagegen.
    Du hast Angst , sagt Biagini. Was soll aus einer Lehrerin werden, die vor ihren Schülern Angst hat?
    Ich mache noch einige Schritte, ohne allzu dicht ranzugehen. Riccardi merkt es, schaut mich an, als sei ich vom Mond gefallen.
    Ich hebe eine Hand, lächele ihm zu.
    Hallo.
    Er klammert sich an der Bank fest, reißt den Mund auf, fängt an zu schreien.
 
    »Damit ich das richtig verstehe«, sagte Massimiliano, während wir Rom hinter uns ließen. »Sie stellen dich in eine Klasse mit einem behinderten Jungen, und du hilfst ihm beim Lernen.«
    »Einem verhaltensgestörten Jungen. Ja, mehr oder weniger.«
    »Und dafür musst du bis nach Turin?«
    Auf dem Rücksitz türmten sich große Kartons. Papa hatte die Koffer mit Spanngurten auf dem Gepäckträger festgebunden und mit einer Militärplane gegen den Regen geschützt.
    »Ich möchte es nicht wie im letzten Jahr machen: warten, ohne dass etwas passiert.«
    Weder in Latein noch in Italienisch. Nicht in der Mittelstufe, nicht im Inklusions- und Förderbereich.
    »Wir haben doch erst Oktober.«
    »Wir haben bereits Oktober.«
    Massimiliano zuckte mit den Schultern. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das machen die anderen Freunde, die Verwandten: Sie zucken mit den Schultern und sagen: Im nächsten Jahr wird es besser laufen.
    Sie nicht, dachte ich, aber du, du könntest es verstehen.
 
    Zweiundzwanzig Jahre ist es her, da kamst du, wie jeden Nachmittag nach den Hausaufgaben, zu uns nach Hause; deine Haare waren lockig, du wusstest noch nicht, dass sie dir frühzeitig ausgehen würden und du dir den Schädel rasieren müsstest, um den Mädchen zu gefallen. Auf dem Teppich in meinem Zimmer hast du die acht Monate heraushängen lassen, die du älter bist als ich, indem du mir all das beibrachtest, was ich nicht schon selbst herausgefunden hatte. Ein ganzes Jahr lang waren es die Spielkarten. Du lehrtest mich »Rubamazzetto«, Ass sticht alle Karten, Briscola, Scopa. Du sagtest mir, ich solle auf die Farbe Karo achten, die fast immer die wichtigste sei. Du machtest dir dein hervorragendes Gedächtnis zunutze, das du von deinem Großvater geerbt hast, um die letzte Runde des Kartenspiels zu rekonstruieren. »Ich kenne alle deine Karten«, sagtest du jedes Mal, und jedes Mal war es so.
    »Ich verstehe nicht, warum du ausgerechnet jetzt, wo ich weggehe, die Stadt in Schutz nehmen musst. Schließlich bist du doch auch der Meinung, dass in Neapel einiges schiefläuft.«
    »Ja, und es wird immer schlimmer«, murmelte er.
    »Der Unterschied ist doch der: Eine Massenentlassung ist im Norden ein Problem, im Süden ist sie eine Tragödie. Sie haben uns fertiggemacht: Das sagst du doch immer.«
    Du müsstest es doch verstehen, dachte ich.
    Du weißt, wie es war, sich den Kopf über die Regeln einer Sprache zu zerbrechen, die nur noch
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