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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Giusi Marchetta
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der Phantasie der anderen Gymnasiasten heben sich die Schüler des künstlerischen Zweigs durch Kleidung, Promiskuität und durch Schulfächer ab, für die man die Hände braucht und dabei den iPod ständig im Ohr haben kann.
    Aber jetzt erscheinen mir diese Schüler nicht besonders verschieden von allen anderen, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie sind noch halbe Kinder. Sie haben das künstlerische Gymnasium gewählt, weil sie gut zeichnen können, weil sie meinen, man müsse dort wenig Mathematik machen, oder weil sie nach der demütigendenersten Klasse Gymnasium, das sie mitten im Schuljahr hat durchfallen lassen, Latein und Griechisch umgehen wollten.
    Seit September sind sie hier und beginnen erst jetzt, sich ihren Klassen und irgendwie auch der Schule zugehörig zu fühlen. Aber sie sind eben noch klein. Das künstlerische Gymnasium kennzeichnet sie einzig und allein durch die allgegenwärtige flache, weiße Plastikmappe, aus der das lange Lineal herausragt. Die schleppen sie resigniert mit sich herum, vergessen sie dann irgendwo und leben in der quälenden Sorge, sie wiederfinden zu müssen.
    Jetzt, während ich die Treppe hinaufeile, bemerke ich lediglich die weißen, quadratischen Flecken, die den Schülern an der rechten Hand baumeln. Ich frage mich, wo sie die Mappen im Klassenzimmer hinlegen und ob noch genug Platz sein wird, um zwischen den Bänken durchzugehen.
 
    Wir waren bereits examinierte Lehrer: Das genügte, um für das Aufbaustudium Inklusionspädagogik zugelassen zu werden.
    Sechs Monate lang versuchten an fünf Nachmittagen in der Woche Pädagogen, Neuropsychiater und Psychologen ein unserer Ausbildung angemessenes Programm zusammenzustellen, das heißt für zukünftige Mathematik-, Sozialkunde-, Naturkunde-, Italienischlehrer, die zusammengewürfelt wurden, um die Chance zu bekommen, im Eilverfahren in den Schuldienst einzutreten – eine Möglichkeit, in der Rangliste höher zu rücken, indem maneinen unbefristeten Vertrag erhält, der eines Tages dann in eine Verbeamtung als Lehrer des jeweiligen Faches umgewandelt werden kann.
    Biagini war unser erster Dozent: Zuerst sah er uns an und schüttelte den Kopf. Dann ergriff er das Wort.
 
    Fünfundzwanzig Jungen und Mädchen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren richten die Augen auf mich.
    »Die neue Inklusionslehrerin.« Loredana, geometrisches Zeichnen, lächelt aufmunternd.
    Riccardi ist nicht da.
    »Andrea kommt immer etwas später«, erklärt sie mir, bevor sie wieder hinter das Pult tritt.
    Jetzt bin ich dran.
    »Guten Morgen euch allen«, sage ich.
    Die Schüler und Schülerinnen der 1A sitzen in drei Jungen- und drei Mädchenreihen. Da sind die Emos, das Mädchen mit den lila Haaren und der Nerd, der ein »Herr der Ringe«-Shirt trägt.
    Der Inklusionslehrer ist ein Lehrer wie die anderen , erläutert Biagini. Sein Eingreifen gilt nie dem speziellen Schüler, sondern allen.
    »Ich bin hier, um euch zu helfen«, beginne ich, als man im Flur ein dumpfes Dröhnen vernimmt. »Wenn ihr zum Beispiel in irgendeinem Fach Probleme habt«, fahre ich fort.
    Ein weiterer Schlag, heftiger, näher. Die Schüler rutschen unruhig auf ihren Stühlen herum: Ich muss lauter sprechen, damit meine Stimme nicht zittert.
    »Guten Morgen, Andrea«, sagt Loredana. Sie lächelt.
    Er schnappt sich die kleine Mappe und rennt bis zu der leeren Bank ganz hinten im Klassenzimmer. Hektisch reißt er sich Jacke und Rucksack herunter, lässt sich auf den Stuhl fallen, vergräbt die Hände in den Haaren, lehnt sich zurück und beginnt zu schaukeln, vor und zurück, vor und zurück …
 
    »Ihr trefft auf Schüler, die nicht sprechen, auf blinde und taube. Ihr habt es mit Schülern zu tun, die sich vollpinkeln, sich unvermittelt auf den Boden werfen und die Augen verdrehen. Das sind aber keine Schüler, sondern Notfälle. Sie spucken, beißen, stecken sich die Finger in die Nase und in die Unterhose, kratzen sich blutig.«
    Biagini redete und beobachtete uns dabei, forschte in unseren Gesichtern nach ersten Anzeichen von Unbehagen.
    »Da gibt es welche, die bei der leisesten Berührung ausflippen, und andere, die euch mit ihrer Scheiße bewerfen. Wenn sie euch hassen, kriegt ihr Faustschläge und Fußtritte ab. Ansonsten passt ihr auf sie auf, während sie sich im Rollstuhl winden oder wie Marionetten durch die Gänge hüpfen. Der eine oder andere stirbt.«
    Ich bat Anna, mich zu kneifen. Sie jedoch starrte ihn weiter unverwandt an.
    »Sicher, es gibt die
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