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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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vielfältigen Erzählungen über die Menehune, einen Streich spielten. Doch schließlich musste er glauben, was er sah:
    Der Strom der glühenden Lava umfloss eine kleine Erhebung, eine jener grünen Inseln, die von den Einheimischen
kipuka
genannt werden. Auf diesem Inselchen aber stand ein Kind.
    Es rief nicht. Es weinte nicht. Es stand nur da, immer wieder verdeckt von Schwaden aus Rauch und Dampf, und blickte ihn an, stumm. So, als hätte es vor langer Zeit aufgehört zu rufen, aufgehört zu weinen, aufgehört zu warten, zu hoffen …
    Ein Kind in Not. Hans Kaspar sah durch den Dunst, über den Strom hinweg, sah sie in seinen Augen. Er musste hinüber. Er lief am Ufer des Lavaflusses hin und her, aber er war zu breit, um übersprungen zu werden. Doch kam da nicht der glühende Strom zum Stehen? Bildete sich dort nicht schon eine Kruste?
    Während Hans Kaspar nach einem geeigneten Übergang suchte, war ihm, als riefe das Kind jetzt nach ihm. Als riefe es durch das Brechen stürzender Bäume, durch das Zischen und Grollen hindurch: Komm! Komm doch! Worauf wartest du?! Komm doch, rette
dich
!
    Rette dich?
    Ja, Hans Kaspar, rette dich!
    Er schüttelte instinktiv den Kopf. Seine Hände fuhren erregt und ratlos zugleich übers Gesicht, durch die Haare, in den Nacken.
    Da war mit diesem Kind etwas aus dem Schatten seines Lebens getreten. Etwas, das sein Innerstes berührte, ein Traumgesicht: Erscheinung und Antlitz zugleich.
    So wird es Helder in Hans Kaspars wenigen noch erhaltenen Notizen lesen:
    In diesem Gesicht, so fremd es auch war, erkannte ich mich selbst. Ich sah in einen Spiegel, der sich plötzlich hinter allen Spiegeln meines bisherigen Lebens zeigte. Jene erschienen mir in diesem Moment wie trübe Teiche, dieses aber als ein Meer. Ein Meer wie ein fremdes Gesicht,wie das Gesicht dieses Kindes. Ein anderes Ich. Mein verlorenes Ich, mein Zuhause. Das Meer und gleichzeitig eine Perle, verloren und eben jetzt wiederentdeckt auf dem Grund dieses Meeres.
    Doch wie hingelangen?
    Da war plötzlich etwas Dunkles an meiner Seite. Ich glaubte, es sei mein Schatten. Dann sah ich dieses Du wie einen Bruder, war wie benommen, sah Ahmad, sah Estragon, sah Siyakuu neben mir im brandigen Dunst. Erst fürchtete ich, ich müsse vergehen. Dann spürte ich eine Berührung, fühlte Stärke, Zärtlichkeit, Mut. Die Möglichkeit einer anderen Existenz. Da lief ich los …
    Helder, auf der Verbotenen Insel vor einer Palmhütte hockend, lauscht dem Bericht, sieht die schemenhafte Gestalt seines Großvaters überm Lavastrom, sieht seine Füße über brüchiger Kruste, über sich dehnenden Gluträndern die Schuhe, ihre schwelenden, von Flämmchen umzüngelten Sohlen. Dann verschwindet er im rauchigen Dunst. Irgendwann sieht er ihn wieder, da hat er schon das Kind auf dem Arm, steht am sicheren Ufer.
    Jemand ruft, jemand winkt, gestikuliert. Auf dem Dschungelpfad, den Hans Kaspar gekommen war, tauchen Leute auf. Hans Kaspar, auf dem Arm noch immer das gerettete Kind, hebt die Hand. Er setzt das Kind ab, vielleicht in der Annahme, dass es zu diesen Leuten gehört. Doch kaum ist das geschehen, verschwindet das Kind mit zwei, drei Sprüngen im Dschungel.
    Die Leute stammten, erfuhr Helder weiter, aus einem naheliegenden Dorf. Sie mussten die Szene beobachtet haben. Voll Ehrfurcht näherten sie sich. Einer, der über glühende Lava läuft, musste magische Fähigkeiten haben. Sie luden Hans Kaspar zu sich ein. In ihrem Dorf verbreitete sich im Nu der Bericht vom Kind im Lavastrom. Von diesem Tag an wurde Hans Kaspar von den Leuten verehrt wie ein Kahuna, als ein heiliger Mann.
    Von dem Kind fehlte weiterhin jede Spur. War es aus einem der anderen Dörfer gekommen? War es tatsächlich einer der kleinwüchsigen Menehune, jener Kindermenschen aus Rutas, der Urheimat des Menschen? Jedes Gerücht wusste es besser, eines besagte gar, das Kind sei göttlicher Herkunft gewesen.
    Der Pfarrer, der regelmäßig aus der nächsten Kleinstadt kam, wollte bei seinem Gottesdienst nicht so weit gehen, von einem Wunder zu sprechen. Doch begrüßte er Hans Kaspar fortan nicht ohne einen spöttischen Unterton: Ah, da ist ja unser Christophorus.
    Der aber lächelte dann und zeigte auf seine Schuhe: Die, Herr Pfarrer, hat ein Derwisch gemacht.
    Für die Leute blieb er der
kanaka kïpuki,
der Mann im Lavastrom. Zu den Ehrungen, die man ihm zuteilwerden ließ, gehörte auch, dass ihm ein steinalter Mann eine Reliquie übergab. Es handelte sich um eine sorgfältig
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