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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten
Autoren: Alexandra von Grote
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zurückstellen. Die Schule vorzeitig abbrechen. Kein Studium. Nur eine schnelle Ausbildung zur Sekretärin und dann ein Halbtagsjob, aus dem sie vor vier Jahren ausgestiegen war. Verzicht auf allen Ebenen. Immer für Maman da sein, ihr jeden Tag aufs Neue zeigen, wie sehr die Tochter die Mutter liebte.
    Und doch war alles umsonst gewesen.
    Ein vergeudetes Leben; verlorene Liebesmüh.
    Ihren Vater hatte Marguerite nicht gekannt. Die Mutter sprach nie über ihn. Nur einmal hatte sie Marguerite gesagt, sie hätte seine Augen und wäre ihm auch sonst ziemlich ähnlich. Das war an Marguerites fünfzehntem Geburtstag, und im Blick der Mutter lag eine intensive Mischung aus Hass und Verachtung. Für immer hatte er sich in Marguerites Herz gebrannt, und die Wunde würde nie verheilen.
    »Hast du gehört?« Die scharfe Stimme der Mutter riss Marguerite aus ihren Gedanken. »Manchmal glaube ich, du machst es mit Absicht!«
    Marguerite erwiderte nichts. Sie wandte sich zur Tür, blieb einen Moment unbeweglich stehen und sagte dann leise:
    »Also, ich gehe jetzt zur Bank, Maman.«
    »Bleib nicht wieder so lange weg!«
    »Ich bleib doch nie lange weg.«
    »Doch, jedes Mal, wenn du die Wohnung verlässt, muss ich eine Ewigkeit auf dich warten.« Marguerite wusste, dass das nicht stimmte, doch sie hatte es schon lange aufgegeben, ihrer Mutter zu widersprechen.
    »Weil es dir Spaß macht, dass ich hier hilflos und allein liege«, fuhr Hélène giftig fort. »Aber in deinem Leben hast du ja noch nie Verantwortungsgefühl gezeigt.«
    Marguerite verließ das Zimmer ihrer Mutter. So leise sie konnte, schloss sie die Tür. Ihre Hände zitterten, und schon spürte sie das Zucken um ihren Mund.
    Bloß jetzt nicht losheulen!, dachte sie und zwang sich, tief durchzuatmen. Gleichwohl rollten schon die ersten Tränen über ihre Wangen. Mit einer heftigen Geste wischte sie sie weg. Vom Garderobenhaken nahm sie ihren beigen Mantel und den gelb-blau gestreiften Schal. Ihr Blick in den Spiegel über der Flurkonsole zeigte ein starres Gesicht mit zusammengekniffenem Mund und einer steilen Falte zwischen den Brauen, kräftige, graue Strähnen im gewellten, halblang geschnittenen Haar, das stumpf und spröde herunterhing. Tot.
    Wie tot fühlte sie sich. Erloschen, in eine Starre versetzt, die für immer anhalten würde. Der Gedanke, ihrem Leben ein Ende zu setzen, war vor einigen Jahren kurzzeitig aufgeflackert und bald wieder verworfen worden. Dann hätte sie Maman im Stich gelassen, und ihre Schuld wäre noch größer geworden. Eine Schuld, an der sie zu ersticken drohte, obwohl sie nicht wusste, wie sie sie überhaupt auf sich geladen hatte. Durch ihre bloße Existenz? Nie würde sie eine Antwort darauf finden, und der Ursprung all dessen lag viel zu lange zurück, als dass man den Faden je wieder würde aufrollen können.
    Im Treppenhaus lauschte sie einen Augenblick. Aus der Wohnung der alleinerziehenden jungen Mutter im ersten Stock erklang gurrendes Lachen, dann vernahm Marguerite einzelne Gesprächsfetzen. Die junge Frau telefonierte. Mit ihrem neuen Freund, der sie seit einigen Wochen regelmäßig besuchte? Ein wehmütiges Lächeln huschte über Marguerites Gesicht. Dann straffte sie sich, schüttelte energisch Kopf und Schultern, als müsste sie sich von einem nie in Erfüllung gegangenen Wunsch befreien, und setzte ihren Weg fort.
    Die Filiale der LCL-Bank lag nur zwei Straßen weiter. Um fünf vor zwölf erreichte sie den Blumenladen in der Rue des Citeaux. Von hier aus waren es nur wenige Schritte bis zu dem Kreditinstitut.
    Er ordnete die Manuskriptseiten auf seinem Schreibtisch, legte sie akkurat auf die linke Seite. Ein frischer Computerausdruck, der Anfang des dritten Kapitels. Am gestrigen Tag hatte er es begonnen und am heutigen Morgen korrigiert.
    Christian Chatel lebte nach einem festen Rhythmus. Manche seiner Kollegen arbeiteten vorwiegend nachts, während er ein ausgesprochener Morgenmensch war. Er stand um sieben Uhr morgens auf, absolvierte sein zehnminütiges Hanteltraining, frühstückte und saß gegen acht am Computer. Später als zum Beispiel Jonathan Franzen, der angeblich oft schon um vier Uhr morgens mit der Arbeit begann. Das hatte Christian vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen. Nicht, dass er diese Story glaubte. Amerikaner neigten zu Übertreibungen, ganz besonders Leute, die als Crème de la Crème des Literaturbetriebs galten.
    Mittags unterbrach Christian seine Arbeit für eine Stunde, dann schrieb er noch
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