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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten
Autoren: Alexandra von Grote
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einigen Wochen war die Hochzeit geplant, ein großes Familienfest auf dem Weingut von Célines Eltern im Burgund.
    »Ich bin froh, dass alles so glatt läuft, mein Liebes«, sagte er. »Kann man denn schon feststellen, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird?«
    »Ja. Aber ich will’s gar nicht wissen. Es ist viel schöner, wenn wir es erst bei der Geburt erfahren, Maurice. Findest du nicht?«
    »Du hast Recht. Früher hat man auch nicht vorher gewusst, was es wird.«
    »Wie läuft es bei dir?«
    »Die übliche Routine. Wir stehen ganz am Anfang. Mord durch Erschießen. Ich sehe zu, dass ich nicht allzu spät nach Hause komme.«
    »Ich koche uns heute Abend was Schönes. Jetzt bin ich gerade auf dem Weg zu meiner Bank. Wenn ich da fertig bin, nehme ich mir ein Taxi.«
    Die Filiale der LCL-Bank, bei der Céline schon seit vielen Jahren Kundin war, befand sich am Boulevard Diderot/Ecke Rue Beccaria.
    »Gut. Also, bis später. Ich liebe dich«, flüsterte LaBréa zärtlich.
    »Ich dich auch, Maurice.«
    »Pass auf dich auf!«
    LaBréa beendete das Gespräch. Einen Moment blieb er noch im Hof stehen, dann kehrte er zum Tatort zurück. Die hässliche Wirklichkeit des Mordfalls stülpte sich wieder über ihn.

2. KAPITEL
    Marguerite Brancard stellte das Kopfteil des Bettes ein wenig höher, hob behutsam den Nacken ihrer Mutter an und rückte das Kissen zurecht.
    »Nicht so hoch!« Die Stimme der alten Frau klang schrill und unwirsch. »Stell es niedriger!«
    »Eben war es ja niedriger, aber das wolltest du nicht. Eine Zwischenstufe gibt es nicht, Maman.«
    Marguerite zog die Bettdecke über die ausgemergelten, mit Altersflecken übersäten Arme ihrer Mutter. Mit einer heftigen Bewegung stieß diese die Decke zurück.
    »Lass das, sonst wird mir gleich wieder so warm! Nie kannst du es so machen, wie ich es brauche.« Unter ihren schweren, beinahe violettfarbenen Lidern heftete sich der Blick ihrer wasserblauen Augen auf die Tochter. Marguerite kannte diesen Blick. Verachtung lag darin, Härte, Vorwurf, Unzufriedenheit und eine unverhohlene Freude, an Marguerite herumnörgeln zu können. So war es schon immer gewesen. So lange Marguerite zurückdenken konnte, gab es diese Blicke. Als Kind hatte sie deren vielfältige Abstufungen noch nicht zuordnen können, obwohl sie stets eine diffuse Angst verspürte, wenn die Augen ihrer Mutter auf ihr ruhten. Doch im Lauf der Jahrzehnte hatte sie gelernt, jede Nuance zu deuten. Und genau das war ein Fehler gewesen. Heute, im Alter von beinahe sechzig Jahren, wusste sie das. Sie hätte die Blicke ignorieren sollen. Sich ihnen entziehen müssen. Wäre sie doch nur weggegangen, weit weg! Damals, als noch Zeit gewesen wäre. Ein eigenes Leben führen, davon hatte sie geträumt. Die Welt erobern. Freundschaften schließen, sich verlieben, wer weiß … Doch es war anders gekommen. Die Blicke hatten sie festgehalten, ihr keine Wahl gelassen. Die Träume von einem selbstbestimmten Leben schwanden dahin wie langsam schmelzendes Eis. Darüber waren die Jahre verstrichen. Vergeblich hatte sie in einem Winkel ihres Herzens darauf gehofft, dass die Augen ihrer Mutter einmal etwas anderes verströmen würden, nämlich das, was man gemeinhin Liebe nennt.
    Sie waren rettungslos aneinander verloren. Wo hatte Marguerite diesen Satz einmal gelesen? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, dass er hundertprozentig auf sie und ihre Mutter zutraf. Verloren. Aneinandergekettet. Während Marguerite schon lange in die seelische Abhängigkeitsfalle getappt war, hatte sich die Abhängigkeit der Mutter von der Tochter erst mit zunehmendem Alter ergeben, bis die Mutter schließlich vor zwei Jahren mit schwerer Osteoporose bettlägerig wurde. Mit ihren fünfundachtzig Jahren benötigte Hélène Brancard rund um die Uhr Betreuung und Pflege. Sie war hilflos und auf ihre Tochter angewiesen. Milde, Gelassenheit oder gar Weisheit hatte das Alter ihr nicht geschenkt. Etwas Unversöhnliches, ja geradezu Feindseliges brannte weiter in ihr wie ein loderndes Feuer. Es würde erst mit ihrem Tod erlöschen … und vielleicht nicht einmal dann. Marguerite kannte die Ursache für die Ablehnung nicht, die ihre Mutter ihr von Anfang an entgegengebracht hatte und aufgrund derer Marguerite schon als Kind wie ein Pawlow’scher Hund nach ihrer Liebe gelechzt hatte. Nicht auffallen. Es der Mutter immer Recht machen. Sich anpassen. Gute Schulnoten mit nach Hause bringen. Der Mutter zur Hand gehen, wo sie konnte. Eigene Interessen
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