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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange
Autoren: Ruth Rendell
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warmer Milch neben sich, und obwohl er sich erst vor vier Stunden von ihr getrennt hatte, ging er auf sie zu und küßte sie zärtlich. Der Kuß war inniger als gewöhnlich, denn glücklich, wie seine Ehe war, und zufrieden mit seinem Los, wie er war, bedurfte es manchmal äußerer Katastrophen, um ihm sein gütiges Geschick bewußtzumachen und ihn daran zu erinnern, wie sehr er seine Frau schätzte. Die Frau eines anderen war tot, war auf üble Weise gestorben … Entschlossen verdrängte er seine Überempfindlichkeit, diese Dünnhäutigkeit der späten Nachtstunden, und während er anfing, sich auszuziehen, fragte er Dora, was sie von den Bewohnern von Bury Cottage wisse.
    »Wo ist Bury Cottage?«
    »In der Wool Lane. Ein gewisser Hathall wohnt da. Seine Frau ist heute nachmittag erdrosselt worden.«
    In den dreißig Jahren ihrer Ehe mit einem Polizisten war Dora Wexford weder abgestumpft noch kaltschnäuzig geworden, doch auf eine solche Mitteilung reagierte sie natürlich nicht mehr mit dem Entsetzen einer Durchschnittsfrau.
    »Ach je«, sagte sie und fügte hinzu: »Wie schrecklich! Ist es eine einfache Sache?«
    »Weiß noch nicht.« Ihre sanfte, ruhige Stimme tat ihm gut, wie immer in solchen Fällen. »Bist du diesen Leuten je begegnet?«
    »Der einzigen Person aus der Wool Lane, der ich je begegnet bin, ist diese Mrs. Lake. Sie ist ein paarmal im Fraueninstitut aufgekreuzt, aber ich glaube, sie ist anderweitig zu beschäftigt, um sich groß dafür zu engagieren. Sie interessiert sich entschieden mehr für Männer, weißt du.«
    »Heißt das, das Fraueninstitut hat sie ausgeschlossen?« fragte Wexford in gespieltem Entsetzen.
    »Sei nicht albern, Liebling. So spießig sind wir nicht. Schließlich ist sie ja auch Witwe. Ich verstehe gar nicht, weshalb sie nicht wieder geheiratet hat.«
    »Vielleicht ist sie wie Georg der Zweite.«
    »Kein bißchen. Sie ist sehr hübsch. Was meinst du überhaupt damit?«
    »Der versprach seiner Frau auf ihrem Totenbett, er werde nie wieder heiraten, sondern sich nur Geliebte nehmen.« Während Dora kicherte, betrachtete Wexford seine Gestalt im Spiegel und zog dabei die Bauchmuskeln ein. Im vergangen Jahr hatte er durch Diät, körperliche Bewegung und den Schrecken, in den ihn sein Arzt versetzt hatte, zehn Kilo abgenommen, und zum erstenmal seit zehn Jahren konnte er sein Spiegelbild wieder mit Zufriedenheit, wenn nicht gar mit Vergnügen betrachten. Jetzt empfand er deutlich, daß es sich gelohnt hatte. Jawohl, die Quälerei, sich alles zu verkneifen, was er gern aß und trank, hatte sich gelohnt. Il faut souffrir pour être beau. Wenn es doch bloß auch ein Mittel gegen Haarausfall gäbe.
    »Komm ins Bett«, sagte Dora. »Wenn du nicht aufhörst, dein Gefieder zu spreizen, dann denk ich noch, du willst dir eine Geliebte zulegen. Und ich bin noch nicht tot.«
    Wexford grinste und ging zu Bett. Schon sehr früh in seiner Karriere hatte er sich verboten, sich nachts mit seiner Arbeit zu beschäftigen, und wirklich hatte die Arbeit ihn selten wach gehalten oder ihn bis in seine Träume verfolgt. Aber als er jetzt die Nachttischlampe ausknipste und sich an Dora schmiegte – was so viel leichter und angenehmer ging, jetzt, wo er schlank war –, da gestattete er sich, ein paar Minuten über die Geschehnisse des Abends nachzudenken. Es konnte sehr wohl ein unkomplizierter Fall sein, wirklich. Angela Hathall war jung gewesen und wahrscheinlich hübsch anzuschauen. Sie war kinderlos, und auch wenn sie eine putzsüchtige Hausfrau gewesen war, so mußte ihr die Zeit doch oft lang geworden sein während jener einsamen Wochentage und der einsamen Abende. Was also lag näher, als daß sie irgendeinen Mann aufgegabelt und ihn mit nach Bury Cottage genommen hatte? Wexford wußte, daß eine Frau nicht unbedingt verzweifelt oder nymphoman oder auf dem Wege zur Prostitution sein mußte, um so etwas zu tun. Wahrscheinlich dachte sie noch nicht einmal an Untreue. Denn die Einstellung der Frau zur Sexualität war, wie immer auch die moderne Auffassung lautete, nicht die gleiche wie die des Mannes. Obwohl es fast immer zutraf, daß ein Mann, der eine unbekannte Frau aufgabelt, nur auf ›das eine‹ aus war, und obwohl sie das auch fast immer wußte, klammerte sie sich doch an die edle Vorstellung, daß er nur ein Gespräch und allenfalls einen Kuß wolle. War das auch Angela Hathalls Einstellung gewesen? Hatte sie einen Mann in ihrem Wagen mitgenommen, einen Mann, der mehr wollte als das, und
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