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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange
Autoren: Ruth Rendell
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zog die Schultern nach vorn. Dann rief er mit rauher, aber ruhiger Stimme von oben:
    »Ruf die Polizei an, Mutter, und sag ihnen, was passiert ist.«
    Sie war froh, etwas tun zu können, und als sie das Telefon auf dem niedrigen Tisch unter einem Bücherregal gefunden hatte, setzte sie den Finger auf die Neun in der Wählscheibe.

2
    Er war ein großer Mann mit unzureichendem Gewicht für seinen ausladenden Körperbau. Und er hatte ein ungesundes Aussehen, der Bauch hing ein wenig schlaff, und die Farbe der Haut war ein fleckiges Rot. Seine Haare, obgleich noch schwarz, waren spröde und schütter, die Gesichtszüge hart und anmaßend. Er saß in einem Sessel, zusammengesackt, als ob er verwundet und dann dort hingeschleudert worden sei. Im Gegensatz dazu saß seine Mutter kerzengerade, die schweren Beine eng zusammengepreßt, die Hände mit den Innenflächen nach unten im Schoß, die Augen auf den Sohn gerichtet, mehr Strenge als Mitleid.
    Chief Inspector Wexford mußte an jene Mütter aus Sparta denken, die eher erduldeten, daß ihre Söhne auf dem Schild nach Hause getragen wurden, als zu hören, daß sie gefangengenommen worden waren. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn sie diesem Mann gesagt hätte, er solle sich zusammenreißen, aber abgesehen von einem kurzangebundenen Nicken, als sie Inspector Burden und ihn ins Haus ließ, hatte sie sich bisher überhaupt noch mit keinem Wort und keiner Geste geäußert. Er fand, sie sah aus wie eine Gefängniswärterin oder wie die Vorsteherin eines Arbeitshauses aus alten Zeiten.
    Von oben hörte man die Schritte weiterer Polizisten, die dort hin und her gingen. Die Leiche der Frau war so, wie sie lag, fotografiert worden, der Witwer hatte sie identifiziert, und dann hatte man sie ins Leichenhaus geschafft. Trotzdem hatten die Männer noch viel zu tun. Das Haus wurde nach Fingerabdrücken abgesucht, nach der Tatwaffe, nach irgendwelchen Hinweisen, wie diese junge Frau zu Tode gekommen war. Und es war ein ziemlich großes Einfamilienhaus, mit fünf geräumigen Zimmern außer der Küche und dem Badezimmer. Seit acht Uhr waren sie hier, und jetzt war es fast Mitternacht.
    Wexford stand an einem Tisch, auf dem der Führerschein der Toten, die Geldbörse und der übrige Inhalt ihrer Handtasche lagen, und untersuchte gerade ihren Paß. Danach war sie britische Staatsbürgerin, in Melbourne/Australien geboren, zweiunddreißig Jahre alt, Beruf Hausfrau, Haare dunkelbraun, Augen grau, Größe 1,65 m, keine unveränderlichen Kennzeichen. Angela Margaret Hathall. Der Paß war drei Jahre alt und ohne jeden ausländischen Stempel. Das Foto darin hatte so viel Ähnlichkeit mit der toten Frau, wie solche Fotos es gewöhnlich mit den dazugehörigen Personen haben.
    »Ihre Frau lebte allein hier während der Woche, Mr. Hathall?« fragte er, während er sich von dem Tisch abwandte und sich setzte.
    Hathall nickte. Er antwortete mit leiser Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. »Ich habe früher in Toxborough gearbeitet. Als ich eine neue Stellung in London bekam, konnte ich nicht dauernd hin- und herfahren. Das war im Juli. Ich habe während der Woche bei meiner Mutter gewohnt und bin immer an den Wochenenden nach Hause gefahren.«
    »Sie und Ihre Mutter sind hier um halb acht angekommen?«
    »Zwanzig nach sieben«, korrigierte Mrs. Hathall. Es war das erste, was sie sagte. Sie hatte eine rauhe, metallische Stimme. Unter dem Südlondoner Akzent lag eine Spur nordenglischen Dialektes.
    »Dann hatten Sie also Ihre Frau nicht mehr gesehen seit… seit wann? Seit letzten Sonntag? Montag?«
    »Sonntag abend«, erklärte Hathall. »Ich bin am Sonntag abend mit dem Zug zu meiner Mutter gefahren. Meine … Angela fuhr mich zum Bahnhof. Ich … ich habe sie jeden Tag angerufen. Ich habe sie auch heute angerufen. Um die Mittagszeit. Es ging ihr gut.« Er sog scharf den Atem ein, es klang wie ein Schluchzen, und sein Körper schwankte vorwärts. »Wer … wer kann das getan haben? Wer hätte denn Angela töten wollen?«
    Seine Worte hatten etwas Bühnenhaftes, einen falschen Ton, wie eingelernt aus einem Fernsehrührstück oder einem klischeestrotzenden Thriller. Aber Wexford wußte, daß Schmerz manchmal nur durch Platitüden ausgedrückt werden kann. Originell sind wir nur in unseren glücklichen Momenten. Kummer hat nur eine Stimme, ein Weinen.
    Er beantwortete die Frage denn auch mit ähnlich abgedroschenen Worten. »Das werden wir eben herausfinden müssen, Mr. Hathall. Sie waren den
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