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Der Kulturinfarkt

Der Kulturinfarkt

Titel: Der Kulturinfarkt
Autoren: Stephan Pius u Opitz Armin u Knuesel Dieter u Klein Haselbach
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Wissenschaft als Kultur zu erleben, als Weltgestaltung in größten Dimensionen. Es geht darum zu zeigen, dass das ästhetische Prinzip, wie Europa es kultiviert, ein lokales ist. Ein überschaubares. Gefahrloses. Kunst mit wissenschaftlicher Forschung gleichzusetzen, gar als neue Erkenntnistheorie an die Stelle Letzterer zu heben, wie es derzeit im Hochschulkontext und in der experimentellen Kunst propagiert wird, ist ein Irrweg. Kunst bewirtschaftet Emotionen, Forschung Wissen. Kunst ist mehrdeutig, Wissen überprüfbar. Das klarzustellen ist der erste Auftrag von kultureller Bildung. Kunst und Wissenschaft bilden gemeinsam unsere Kultur. Nicht Geschmack und nicht Moral sind die Essenz kultureller Bildung, sondern Mündigkeit. Auch nicht die Sicherung der Autorität der Kultureinrichtungen und ihres Definitionsanspruches, sondern die Festigung des Rezipienten selbst, der Kultur jeden Tag lebt. Nach seiner Wahl. Vielleicht auch gegen die Autorität der Institutionen. Umso besser, wenn sich bei ihm Widerstandsgeist regt.
    Darüber hinaus sehen wir keinen Handlungsbedarf. Den 90 Prozent kulturell Desinteressierten mittels verschärfter kultureller oder ästhetischer Bildung ein Interesse an der Kunst einzuimpfen halten wir für aussichtslos. Ziele von Kulturpolitik sind die Sicherung eines produktiven Kultursystems (kulturelle Komplexe), die Aktivierung der Bürger, ihr eigenes Ding zu realisieren (Laienkultur), Erleichterung des Zugangs (als Option der Lebensgestaltung) zu kulturellen Inhalten.
    Der kulturelle Wissenstrieb macht sich bei den vielen bemerkbar, sobald sie sich als Touristen bewegen. In diesem Aggregatzustand verleiben sie sich das künstlerische und materielle Erbe der Welt ein. Davon leben die großen Museen, und davon lebt die Tourismus- beziehungsweise die Wallfahrtsindustrie. Dass hier jede mittlere Stadt mithalten könne, ist ein Irrtum, der die Heimatpflege strohbefeuert. Die tourismuskulturelle Hochrüstung kostet, und sie funktioniert nur im Gravitationsfeld eines klassischen Inventars.
    Drei kulturpolitische Imperative lassen sich aus der Bildungsthematik ableiten:
Kultur gehört als roter Faden in die Schule, im Sinne des Vertrautmachens mit der eigenen Kulturgeschichte und des Ausprobierens der eigenen kreativen Energien, also als Scharfmachen auch der sinnlichen Werkzeuge. Diese Form von Selbstständigkeit umfasst ästhetische, kulturelle wie naturwissenschaftliche Fächer, sie ist eine Haltungsfrage und keine Sache der Stundentafel. Das bürgerlich-humanistische Gymnasium, so antiquiert der Terminus heute klingt, liefert wunderbare Modelle solchen Gleichgewichts von Kunst und Wissenschaft.
Kulturelle Bildung muss viel breiter gefasst sein. Infolge der Globalisierung steht sie vor der Aufgabe, uns einzuführen in Kulturen, die traditionell nicht auf dem Radar unserer Bildungs- und Kultureinrichtungen erscheinen, die aber gegenwärtig unsere Weltsicht prägen und Hoffnungen wie Ängste wecken. Wo lernen wir chinesische Geschichte? Wer erklärt uns die Entstehung der Türkei? Die Geschichte der europäischen Sklaverei von der griechischen Demokratie bis zu den Janitscharen auf dem Balkan? Das darf durchaus auf Kosten der Kenntnisse in europäischer Antike geschehen. Aufklärung, und wir gehen hier von einem aufgeklärten Menschen aus, der die erworbene Freiheit umfänglicher als die Techniker der Kulturpolitik nutzt, benötigt noch immer Bürgerinnen und Bürger, die logisch folgern und konstruktiv denken können. Dass der Individualismus, verpuppt als künstlerische Kreativität, gefördert werde, danach verlangt zwar der Zeitgeist, das scheint uns aber nicht notwendig.
Kulturelle Bildung hat – auch durch ihre Ausweitung auf die jüngste Kulturgeschichte anderer Völker – einen integrativen Aspekt. Sie integriert uns in die globale kulturelle Dynamik. Und sie schafft, indem sie den Einwanderern elementare Techniken wie deutsche Sprache, Lesen und Schreiben vermittelt, Überlebensbefähigung. Dies gilt als beidseitiges Obligo. Wir sind keine Kulturinsel. Und die Zugewanderten leben genauso wenig auf einer.
    Digitalisierung oder: Jedem Kind ein …
    Große, erst in Teilen absehbare Veränderungen bringt die Digitalisierung. Die Musikindustrie hat demonstriert, wie tief die Eingriffe sind. Musik wird billiger, omnipräsent, wir hüllen uns förmlich in allerlei Clouds. Die Kreativität hat darunter nicht gelitten, nur die Musikkonzerne mussten Federn lassen. Gewitzte Künstler nutzen das
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