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Der Kulturinfarkt

Der Kulturinfarkt

Titel: Der Kulturinfarkt
Autoren: Stephan Pius u Opitz Armin u Knuesel Dieter u Klein Haselbach
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auszugraben.
    Im Zusammenhang mit Baugeschichte darf man fragen, wie viele unter Denkmalschutz stehende Tankstellen der Fünfziger- oder Universitätsbauten der siebziger Jahre oder neugotische Kasernen oder Fachwerkbauten des späten 16. Jahrhunderts in einem geschichtlich beschreibbaren Raum ein Gemeinwesen für die exemplarische Sicherung der Anschaulichkeit benötigt. Eine Objektivität in diesen Fragen gibt es nicht – der fensterlos verkachelte oder braun bekupferte Siebziger-Jahre-Nachbau eines Bunkers aus dem Zweiten Weltkrieg als Arbeitsstätte im Finanzsektor wird in der Publikumsgunst kaum mit einem Barockschloss konkurrieren können. Denn auch in einer Demokratie gibt es das Hässliche und das Schöne. Mag sein, dass in ihr mit dem Schönen und Hässlichen etwas weniger einfach umzugehen ist als in einer absoluten Monarchie. Und natürlich gibt es unter den Denkmalpflegern Menschen, die der Meinung sind, es müsse doch von allen einzusehen sein, dass billig gebaute Sechziger-Jahre-Vorstadtzeilen genauso zu lieben sind wie innenstädtische Bürgerhäuser aus dem späten 18. Jahrhundert.
    Das dahinter stehende Argument ist simpel und rekurriert auf das bloße Alter. Wenn eine Sache nur abgehangen genug ist, dann wird sie schon irgendwie zum allgemein akzeptierten Kulturgut. Ähnlich argumentieren manche Neutöner in leeren Konzertsälen und führen an, dass Johann Sebastian Bach zu seiner Zeit auch Avantgarde war. Die dahinter stehende Logik ist distinktionsbefreit. Wenn ich mein heutiges künstlerisches Schaffen auf einer Zeitachse 300 Jahre in die Zukunft projiziere, dann wird es schon aufgrund seines Alters automatisch bedeutende Vergangenheit mit ästhetischer Dauer sein, und dies antizipiere ich schon jetzt einmal, vorsichtshalber gewissermaßen. Dass unter die musikalisch schaffenden Zeitgenossen Bachs unzählige Nicht-Bachs zu rechnen sind, von denen niemand mehr hört und weiß, blendet diese Logik aus.
    Beim Denkmalschutz kamen mit dem hoheitlichen Status des kulturellen Urteils im Gefolge einer Geschichtsidee des 19. Jahrhunderts exekutiv-inhaltliche Vorschriften hinzu, deren Entwicklung, vor allem in Deutschland, in den letzten 100 Jahren zu beschreiben einigen Aufschluss über Grundbedürfnisse mitteleuropäischer Administration geben kann. Um den immer jeweils individuell, aktuell und unter Abwägung kultureller Kenntnisse und darauf fußender Urteilsfähigkeit zu beschreibenden Einzelfall geht es meist weniger, um die Durchsetzung eines hoheitlichen Gestus öfter. Doch das kulturelle Urteil (und nur dies sichert im Grundsatz eine kulturelle Anschauung) und der hoheitliche Gestus sind weitgehend inkommensurable Größen.
    Der Kern des Problems ist die Differenz zwischen Erhalt und Nutzung eines Bauwerks. Der hoheitlich bestimmte und gesteuerte, gar mit dem Gewaltmonopol durchgesetzte Erhalt eines Gebäudes oder Gebäudeensembles als künftiges Denkmal wird keine Akzeptanz oder gar Empathie erzeugen können – eine Verbindung von Erhalt und Nutzen jedoch möglicherweise schon.
    Wer sich in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, als öffentliches Geld – auch für Denkmalschutz – noch in Fülle vorhanden war, eine kleinere, ältere Stadt etwa im Südwesten anschaute, sah im Stadtkern eine beeindruckende Ansammlung auf Hochglanz restaurierter Fachwerkhäuser. In den suburbanen Zonen derselben Stadt dagegen begannen betriebliche Flachdachbauten das Bild zu bestimmen, umgeben von sorgfältig versiegelter Wirtschaftsfläche. Von den Gartenlandschaften, die noch in den Fünfzigern ganze Flusstäler prägten und die im Lauf der Jahrhunderte das Verhältnis von Stadt und Vorstadt bestimmt hatten, war nicht mehr viel übrig.
    Wie man Gewerbe in Altbauten betreiben kann, ob man zur Durchsetzung dieses Ansatzes meritorisch Geld in Form von Steuervorteilen oder Bauzuschüssen bewegen kann und stattdessen auf Neubauten auf der grünen Wiese verzichtet, interessierte so recht weder Denkmalschutz noch Wirtschaft. Doch sobald eine Zehntscheuer aus Fachwerk in einem Städtchen im Süden oder eine Molkerei aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im ländlichen Norden nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck genutzt wurde, stellte man sie unter Denkmalschutz und richtete die Bauten her. Dann stellte sich die Frage nach der Nutzung. Kultur bot sich an. Auf diese Weise sind jede Menge Kulturzentren in schick und denkmalgerecht auf Hochglanz getrimmten Fachwerkbau-Innenstädten entstanden. Aber irgendwann
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