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Der Kulturinfarkt

Der Kulturinfarkt

Titel: Der Kulturinfarkt
Autoren: Stephan Pius u Opitz Armin u Knuesel Dieter u Klein Haselbach
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jene Fächer, die Kinder bekanntlich intelligent und sozial machen.
    Dieser Bildungsbegriff ist verkürzt. Wenn Bildung das Individuum in die Lage versetzen will, sein Leben selbst zu gestalten und sich dabei in einer sozialen Rolle zu verstehen, dann gehören zu dieser Befähigung Wissen, Kenntnisse von Kulturtechniken und Regeln wie auch die Stärke, sich als gesellschaftliches Wesen zu begreifen. Diese Fähigkeit muss das Leitmotiv allen Unterrichts sein. Sie stützt sich genauso auf die Naturwissenschaften als kulturelles Element wie auf die Kunst. Ohne wissenschaftliche Forscher stünden wir noch jetzt im Banne des Glaubens – und Kunst und Kultur wären Mittel reaktionärer Indoktrination. Es war und ist noch immer, auch das ist keine große Weisheit, der technische Fortschritt, welcher Kultur (und mit Verzögerung Kunst) zu Sprüngen in die Zukunft motiviert. Die Erfindung des Buchdrucks zum Beispiel war die Voraussetzung für die Befreiung des Geistes aus der Fessel der Mächtigen. Erst das gedruckte Buch machte eine Verbreitung des Wissens über alle Schranken von Ständen und Klassen hinweg möglich, die Aufklärung, den mündigen Bürger, die Demokratie. Erfunden wurde der Buchdruck von einem Tüftler der Physik. Die Schreiber der Klöster und fürstlichen Kanzleien hatten weder Interesse an der Popularisierung des Wissens noch am Niedergang ihres Berufs.
    Mehr noch, Gymnasium und Universität als wirksamste Bildungseinrichtungen justieren auch das Gleichgewicht der in der gesellschaftlichen Elite wirkenden Kräfte. Gleichgewicht hieße gegenwärtig, der Forderung nach vermehrter ästhetischer Bildung mit der Forderung nach mehr Naturwissenschaft zu begegnen. Es hieße, die kulturelle Schlagseite der Gegenwart zu korrigieren aus der Einsicht, dass die Lösung der großen Probleme unserer Gesellschaft – Demografie, Gesundheit, Ernährung, Klima, Energie – nicht in der Kunst zu finden ist. Dass Lösungen gefunden werden, liegt im Interesse aller. Dafür benötigt die Menschheit Forscher, Wissenschaftler und Ingenieure: Menschen, die mit Passion Aufgaben bewältigen, bei denen Hartnäckigkeit gefragt ist ohne öffentliche Anerkennung, die auf Leidenschaft ohne Glamoureffekt beruhen. Kreativität ist nicht nur im Akt der Selbsterfindung gegeben, sondern auch da, wo es um Antworten auf Fragen geht, die einem von anderen gestellt werden. Deutschland, Österreich und die Schweiz suchen Tausende von Ingenieuren; ihre eigene Jugend zieht es hingegen in die Kommunikations- und Kulturbranche. Ganz offensichtlich erntet man dort leichter Anerkennung, ist besser ausgestellt, und Misserfolg lässt sich einfacher wegreden. Vor allem: Es fließt mehr Geld, das nicht leistungsbezogen ist.
    Die Vision einer umfassenden Erlebnisgesellschaft, deren Ökonomie auf dem Fundament ästhetischer Kreativität ruht, ist erhebend, sie ist zudem ökologisch und politisch korrekt. Aber sie ist eine Sackgasse. Wir sind an Erlebnissen überreich. Die Individualisierung von Stand und Status, von Werten und Geschmack ruft danach, dass jeder sein eigener Künstler werde, wie der Romantiker Beuys es gefordert hat. Nur ist diese Kulturgesellschaft keine Gesellschaft, die sich selbst ernährt. Es gibt keine ästhetische Subsistenzwirtschaft. Auch Erleben macht Hunger. Niemand lebt davon, dass er für sich selbst singt. Erst recht, wenn alle es tun. Zu jeder Kunsthochschule gehört also eine technische. Als die Schweizer 1848 ihren Bundesstaat gründeten, wogte die Diskussion, welche nationalen Institutionen man brauche. Die jungen Helvetier entschieden sich gegen eine Universität und gegen eine Kunsthochschule und bauten die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich. Sie wollten keine kulturelle Normierung. Aber sie sahen Bedarf für Ingenieure.
    Deshalb darf es, wo von kultureller Bildung die Rede ist, nur um die Vermittlung elementarer Techniken gehen. Sie ermöglichen dem Individuum das selbstbestimmte Agieren in der Gesellschaft, das Verstehen und Bewerten. Bildung als Arbeit an sich selbst, sozusagen das letzte Residuum von Arbeit. Dass eine solche Grundlage zu jedem Unterricht von der Primarschule bis in die Universität gehört und Stunden musischer Betätigung wie Musikunterricht oder Medientechnik einschließt, versteht sich von selbst. Mehr ist nicht nötig.
    Es muss, wo von kultureller Bildung die Rede ist, um das historisch ableitbare Gleichgewicht zwischen ästhetischer und wissenschaftlicher Erfahrung gehen. Darum, auch
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