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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Autoren: Ralf Isau
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Wachen gab oder – David schluckte, immer wieder hatte er diesen Gedanken aus seinem Kopf vertrieben – er war nicht zu Hause.
    Mit drei Stakkatopfiffen in schneller Folge gab David eines der verabredeten Signale. Dann warteten er und Ohei. Bald drangen dumpfe Laute zu ihnen herauf. Eine Weile lang war alles still. Hierauf brach sich ein gurgelndes Geräusch an den Klippen der Bucht. Nach ungefähr zehn Minuten war alles vorbei.
    »Sie haben die Männer überwältigt und die Flutventile des Schiffes geöffnet. Jetzt liegt es auf dem Grund dieses herrlichen Plätzchens«, hauchte David in Oheis Ohr. »Offenbar hat hier oben niemand etwas bemerkt. Ich gehe jetzt hinein.«
    »Ich komme mit.«
    »Das war nicht verabredet, Ohei-san.«
    »Ist mir egal. Ich muss meine Ehre wiederherstellen.«
    »Nein, Ohei-san!«
    »Doch, Francis-san! «
    »Alter Narr!«
    »Junger Grünschnabel!«
    David seufzte. Wenn er noch lange hier herumstand und mit dem Alten stritt, dann würden sie doch noch entdeckt werden. Sollte er ihn einfach niederschlagen? Einen Atemzug lang erwog er ernstlich diese Möglichkeit, aber dann musste er wieder an Oheis giri denken. Der Greis würde sich womöglich wirklich selbst entleiben, wenn man ihm die Chance raubte seine Ehre rein zu waschen. David bewegte seine Lippen ganz dicht an Oheis Ohr.
    »Also gut, aber du bleibst immer schön hinter mir – hast du verstanden?«
    »Meinetwegen. Und nun mach schon. Mir schlafen gleich die Beine ein.«
    Auf Zehenspitzen schlich sich David zu der schweren hölzernen Eingangstür. Ohei schlurfte hinterher. David hob vorsichtig den Riegel an. Das leise Quietschen klang in seinen Ohren wie ein markerschütterndes Gekreische. Endlich konnte er die Tür einen Spaltbreit aufziehen. Er spähte in das Innere des Hauses. Irgendwo brannte ein unstetes Licht. Er konnte deutlich die Inneneinrichtung erkennen: Bambusmöbel im europäischen Kolonialstil. Schnell zog er die Tür weiter auf und schlüpfte ins Haus. Dabei hielt er Ohei am Ärmel seines Kimonos fest, damit der Alte schneller nachkam.
    Die beiden Eindringlinge befanden sich in einer Art Teesalon, der durch zwei Papierlaternen erleuchtet wurde. Das Haus war also auf jeden Fall bewohnt. Fragte sich nur, von wem.
    Behutsam bewegte sich David tiefer in den Palast hinein. Ohei folgte ihm, so leise er konnte. Nach wenigen Schritten betraten sie durch eine Schiebetür einen runden Raum, eine Art Innenhof, der sich bereits mitten im Fels befinden musste. An den glatten weißen Wänden standen links und rechts zwei Leuchter, in deren ölgefüllten Schalen muntere Feuer flackerten. David musste unweigerlich an ein anderes Domizil denken, das er aus seines Vaters Diarium kannte. Der Fußboden hier war mit einem farbigen Mosaik geschmückt, das Felsen, Bäume, einen Wasserfall und schillernde Vögel zeigte. Wie um diesen künstlichen Sängern Leben zu verleihen, drang aus den Tiefen des Palastes ein sorgloses Trällern zu den Eindringlingen herüber. Beiderseits der Eingangstür sah man die Stufen einer geschwungenen Treppe.
    Der ehemalige Koch deutete zum rechten Aufgang und meinte: »Da geht es zu seinem persönlichen Wohnsalon hinauf. Zu den Schlafgemächern auch, aber die liegen weiter hinten in der Höhle.« Dann zeigte Ohei nach links und sagte: »Dort kommt man zum Arbeitszimmer, zur Bibliothek und zum großen Besprechungs- und Festraum hinunter, wo er immer mit seinen Hauptleuten zusammengesessen ist. Weiter unten, tief in den Felsen, gibt es noch einen Weinkeller.« Zuletzt deutete der Greis gerade durch die runde Eingangshalle hindurch. »Und da hinten sind noch viele weitere Räume: Gästezimmer, Waffenkammern, die Küche, Vorratsräume, dann die Kammern für das Dienstpersonal und zum Schluss die Zellen für Toyamas persönliche Gefangene.«
    Davids Augen hingen ungläubig an den blassen Lippen des alten Mannes. Obwohl er diese Beschreibung nicht zum ersten Mal hörte, wurde ihm doch erst jetzt so richtig bewusst, wie weitläufig dieser Felsenpalast war. Ja, der Name passte wirklich: Toyama hatte sich hier ein Schloss in den blanken Fels graben lassen.
    »Pass auf!«, zischte er plötzlich. »Da kommt jemand.«
    David zerrte den Greis unsanft zur Seite, damit man sie nicht von dem Gang aus sehen konnte, der geradewegs in das Gestein hineinführte. Gleich darauf kam ein hagerer Mann in mittleren Jahren aus einer der Seitentüren, lief ein paar Schritte über den Flur und verschwand wieder hinter einer anderen
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