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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Autoren: Ralf Isau
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Junge?«, fragte der Schatten mit einer hohen, leicht vibrierenden Stimme, die nicht unfreundlich klang, aber auch nicht besonders herzlich.
    Es verliefen sich nur selten Angehörige der besseren Gesellschaft in dieses Gasthaus – Ravens Court gehörte nicht gerade zu den Etablissements der gehobenen Klasse. Im Sommer hatte Jeff hin und wieder die herablassende Art dieses speziellen Menschenschlages zu spüren bekommen. Der Schemen in der Tür beherrschte diesen Ton auf eine bemerkenswert kalte und distanzierte Art, fast so, als spräche er nicht mit einem Knaben, sondern mit einem nicht ganz einwandfrei funktionierenden Regenschirm.
    »Ich… ich wollte nur…« Jeff war zu eingeschüchtert, um auch nur ein vernünftiges Wort herauszubringen.
    »Wer bist du, Junge?«
    »Mein Name ist… Jeff.«
    »Ist das schon alles? Nur Jeff?«
    »Eigentlich Jeff Fenton, aber so nennt mich hier niemand.«
    Der lebendige Schattenriss machte einen großen Schritt auf den Jungen zu und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Dadurch wurden Jeffs Augen aufs Neue irritiert. Er konnte nur einen schwarzen, wallenden Umhang und einen Hut mit breiter Krempe erkennen.
    »Wie alt bist du, Jeff?«
    »Vierzehn«, murmelte der Junge zögernd. Erst ganz allmählich wich die Starre aus seinen Gliedern. Warum wollte der Fremde das wissen?
    »Hättest du Lust dir etwas Geld zu verdienen?«
    Jeff wurde hellhörig. »Wie viel Geld für welche Arbeit?«
    »Du scheinst mir ein recht geschäftstüchtiger junger Mann zu sein«, antwortete der Schemen amüsiert. Sein Gesicht war unter dem weiten Schlapphut nur zu erahnen. »Da ich jetzt deinen Namen kenne, sollte auch ich mich zuerst vorstellen. Ich bin Negromanus, die rechte Hand von Lord Belial. Und nun zu deinen Fragen: Du müsstest heute von zwei bis gegen Mitternacht auf The Weald House, dem Landsitz meines Herrn, als Küchenjunge arbeiten. Dein Lohn beträgt einen Florin.«
    Der Name des geheimnisvollen Adligen ließ einen weiteren Schauer über Jeffs Rücken laufen. Wie ein lauernder Wolf versteckte sich Lord Belials Anwesen in dem bewaldeten Hügelland außerhalb von Tunbridge Wells. Allein seine einsame Lage gab den Bewohnern der Stadt Anlass zu zahlreichen Gerüchten. Manche meinten zu wissen, dass The Weald House der Treffpunkt einer geheimen Freimaurerloge sei. Andere behaupteten, da draußen würden unheimliche Dinge vor sich gehen. Wer sich derart absondert, der kann nichts Gutes im Schilde führen, lautete eine weit verbreitete Ansicht.
    In Jeffs Kopf tobte ein Bienenschwarm. Er war hin- und hergerissen. Ein Florin! Das waren zwei ganze Schillinge. Vierundzwanzig Pence! Ein unverhoffter warmer Regen, der ihn aus Tunbridge Wells fortspülen würde. Und das für nur zehn Stunden Küchendienst? Er konnte es nicht fassen, sah sich bereits auf der Suche nach einem besseren Ort unbekümmert über sonnige Landstraßen schlendern, ohne die Zeit mit Arbeit oder nächtlichen Beutezügen verschwenden zu müssen. Der Gedanke war verlockend.
    Negromanus bemerkte das Zaudern des Jungen. Deshalb fügte er erklärend hinzu: »Der Lord hat ein knappes Dutzend Gäste eingeladen und besteht auf einem perfekten Ablauf des Abends. In der letzten Nacht ist uns unerwartet eine Küchenhilfe ausgefallen – das Fieber, du weißt schon. Deshalb zahlen wir dir diesen fürstlichen Preis, wenn du dich gleich jetzt entscheidest.«
    Durch Jeffs Gedanken wirbelten unzählige Fragen: Kannte er den Bedauernswerten, dessen Unglück ihm nun zur Chance werden sollte? Er war »ausgefallen« – hieß das, er rang vielleicht schon mit dem Tod? Und weshalb bot Negromanus einem Küchenjungen so viel Geld? Sollten damit etwa die Bedenken erstickt werden, die in der Stadt kursierten? In Tunbridge Wells wurde viel über The Weald House geflüstert. Manche wollten sogar einen Zusammenhang zwischen dem Auftauchen des geheimnisvollen Lords und der gefährlichen Epidemie sehen. Ach was! »Wer auf den Wind achtet, wird nicht Samen säen; und wer nach den Wolken schaut, wird nicht ernten«, hatte Pater Garrick in einer seiner Predigten einmal gesagt: Übertriebene Vorsicht brachte keinen Lohn. Schon gar nicht zwei ganze Schillinge. Jeff rief sich ins Gedächtnis, dass Lord Belial erst im Frühjahr auf The Weald House Einzug gehalten hatte. Für die einsame Lage des Landsitzes konnte der menschenscheue Adlige wirklich nichts. Und das abergläubische Gerede der Leute…?
    »Ich mach’s«, entfuhr es Jeff. Die unangenehmen Fragen
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