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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Autoren: Ralf Isau
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endlich. Nachdem es am Ableben des Geistlichen nichts mehr zu deuteln gegeben hatte, war er mehr oder weniger kopflos aus der Kirche gerannt. Doch nun kehrte allmählich wieder jene klare Denkweise ein, die ihn in den letzten beiden Jahren am Leben erhalten hatte. Er kniete sich an einer ruhigen Stelle des kleinen Baches nieder, der aus der Heilquelle unterhalb der Pantiles Parade entsprang, und führte das kühle Nass in der hohlen Hand einige Mal zum Mund. Nachdem er genug getrunken hatte, wusch er sich das erhitzte Gesicht und betrachtete sein Antlitz in dem ruhiger werdenden Wasser.
    Er hatte ein wenig zugenommen in den letzten drei Monaten. Die alten Kleider von Ethelbert passten nun sogar, einigermaßen jedenfalls. Mit seinen strahlend blauen Augen und dem dichten, über die Ohrenspitzen reichenden Haar sah er darin sogar ganz passabel aus. Die breiten Hosenträger sorgten zuverlässig dafür, dass die braunen Beinkleider aus derbem Stoff auf richtiger Höhe schwebten. Das helle kragenlose Leinenhemd darunter bot noch genügend Spielraum für Wachstum in jedwede Richtung. Die braunledernen Halbschuhe waren sogar neu besohlt. Alles in allem konnte Jeff zufrieden sein. Es ging ihm so gut wie lange nicht mehr. Zugegeben, auf jeden Fremden hätte er nur wie ein spindeldürrer Halbwüchsiger gewirkt, aber wer ihn heute sah, konnte ja auch nicht ahnen, dass dieser schlaksige Blondschopf vor einem Jahr nur Haut und Knochen gewesen war, zerlumpt und schmutzig wie ein Straßenköter.
    Jeff hatte seine Lehrzeit für das Überleben unter freiem Himmel im Eiltempo absolviert. Er war den Sklavenfängern entkommen, die ihn als Karrenburschen für die Kohlengruben eingeplant, den Räubern, die es auch noch auf sein letztes Hemd abgesehen hatten; er lernte, wie man in der Natur seinen Hunger stillt und wie man lautlos in ein Haus einsteigt.
    Dieser unrühmliche Teil seines Lebenslaufes machte ihm noch immer zu schaffen. Pater Garricks Predigt hatte ihn tief beeindruckt, nicht nur wegen des dramatischen Schlussakkords. Jeff wollte nicht zu den »Kindern des Ungehorsams« gehören, die dem Geist des »Prinzen der Welt« hörig waren. Aber was für eine Chance hatte er wirklich, etwas anderes zu sein als ein ungehorsames Kind, eben doch nur ein ganz gewöhnlicher Dieb?
    Jeff schlug mit der Hand ins Wasser und zerstörte damit sein Spiegelbild. Schnell stand er auf, klopfte sich den Schmutz von den Knien und setzte seinen Marsch fort, im Stillen hoffend, dass der »Prinz der Welt« sich mit seinem Kommen noch etwas Zeit lassen würde.
    Vorbei an viktorianischen Villen, den noblen Sommerhäusern der noch viel nobleren Londoner Gesellschaft, strebte er auf der Straße nach Norden dem Ortsausgang zu. Der kürzeste Weg zur Englischen Riviera war dies nicht, aber Jeff hatte beschlossen, sich nicht mit einem Viertel des Lohnes zufrieden zu geben, wenn er auch die ganzen zwei Schillinge bekommen konnte. Außerdem konnte er schwerlich auf dem Pfad der Tugend in Richtung Südwesten wandeln, wenn er noch eine unrechtmäßig erworbene Anzahlung in der Tasche trug.
    Was immer man über diesen Lord Belial sagen mochte, das meiste davon dürfte auf dummem Geschwätz und der Rest auf kindischem Aberglauben beruhen. Wenn Pater Garricks letzte Andeutungen wirklich dem Lord gegolten hatten, dann doch wohl eher, um seiner Gemeinde die Ohren zu kitzeln. Die Leute hörten eben gern solch düsteres Gerede. Gruseln gehörte zum allgemeinen Zeitvertreib, nicht nur der besseren Gesellschaft. Das Prickeln an den Haarwurzeln hatte eine in vielerlei Hinsicht belebende Wirkung. Das konnte einem so spirituellen Menschen wie Pater Garrick nicht entgangen sein. Bei manchem förderte es eine bußfertige Haltung. Andere – wohl die meisten – würden aber auf jeden Fall auch zu seiner nächsten »Vorstellung« kommen. Leider hatte der gestrenge Gottesmann dabei sein vorzeitiges Ableben nicht mit ins Kalkül gezogen.
    Es muss das Fieber gewesen sein. Jeff rief sich das auffällige Gebaren des Paters in den Sinn. Die steifen Bewegungen. Der Schweiß auf der Stirn. Der Schwindel. All das hatte er auch bei Ethelbert beobachtet, als ihn das Fieber auf das Krankenlager warf. Nur der Ausgang der Geschichte war unterschiedlich.
    Und der Schemen? Hatte er nicht ganz auffällig jener Silhouette geglichen, mit der Negromanus in der Wirtshaustür erschienen war? »Unsinn!«, beschimpfte sich Jeff selbst. Noch einmal steigerte er das Tempo; sein schneller Atem würde ihm die
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