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Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind

Titel: Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
Autoren: Ralf Isau
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schluckte er wie eine bittere Medizin herunter. Auch vermied er es tunlichst, seine Augen länger als nötig bei der beklemmenden Erscheinung des Negromanus verweilen zu lassen; der Diener des Lords schien die Dunkelheit förmlich anzuziehen.
    »Ich gratuliere dir zu deiner Entscheidung«, erwiderte dieser. Seine Stimme klang amüsiert. »Du kennst den Weg zum Landsitz des Lords?«
    »Ich denke, ich werde ihn finden.«
    »Dies hier soll dir bei der Suche helfen. Also dann, bis um zwei. Sei pünktlich, Jeff Fenton.«
    Der Junge hörte ein klimperndes Geräusch, dann das Öffnen der Tür. Sehen konnte er diesen Vorgang nicht, denn Negromanus hatte sich in einer schnellen Bewegung umgedreht und die Wolke seines wallenden Umhangs füllte für einen Augenblick den ganzen Türausschnitt. Dann war er verschwunden.
    Erst jetzt hörte Jeff ein Klappern auf den Dielen. Er musste blinzeln, denn nun blendete ihn wieder das Sonnenlicht durch die offen stehende Tür. Dann sah er es aufblitzen, das Sixpencestück. Schnell bückte er sich und hob die Münze auf. Noch im Aufrichten blickte er auf die Straße hinaus. Von dem dunklen Boten fehlte jede Spur. Merkwürdig. Jeff zuckte mit den Schultern, auf den Lippen ein diebisches Grinsen. Und wenn schon. Ungeachtet aller Bedenken hatte sich diese Begegnung doch gelohnt. Vielleicht war der Diener des Lords ja einfach nur ein ruheloser Geist. Wie würde da erst sein Herr sein?

 
    Warnsignale
     
     
     
    Vielleicht hat dieser Tag ja auch sein Gutes, dachte Jeff, nicht weiter auf die Leute achtend, die selbst heute vor Dr. Bloomys Apotheke Schlange standen. Aus eigenem Entschluss hätte er Tunbridge Wells jedenfalls nicht so schnell den Rücken gekehrt. Aber nun hatte George Arnes ihm die Entscheidung abgenommen.
    Während Jeff die Pantiles Parade hinunterschlenderte, eine gepflasterte, von Säulen gesäumte Promenade, überlegte er, wohin er seine Schritte lenken sollte, wenn er erst den ganzen Lohn für seine Eintagsstelle in der Tasche hatte. Vierundzwanzig Pence! Er konnte es immer noch nicht glauben. Vielleicht wäre die Englische Riviera genau das Richtige für ihn. Das milde Klima von Torquay zog die wohlhabenden Leute aus ganz England wie ein Magnet an. Dort ein Auskommen zu finden, dürfte keine unlösbare Aufgabe sein.
    An der Pforte der Kirche von St. Charles dem Märtyrer blieb er stehen. Jemand rempelte ihn an, murmelte eine Entschuldigung und eilte weiter dem Eingang des Gotteshauses entgegen. Um diese Zeit drängten die Menschen voller Erwartung unter Pater Garricks Kanzel, um wieder einmal eine seiner denkwürdigen Sonntagspredigten zu hören. Jeff kratzte sich hinter dem Ohr. Sollte auch er hineingehen, ein letztes Mal der feurigen Rede Pater Garricks lauschen und vielleicht noch ein Gebet sprechen? Immerhin lag eine ungewisse Zukunft vor ihm, möglicherweise auch Gefahren. Ein wenig himmlische Leitung konnte da gewiss nicht schaden.
    Obwohl das Leben Jeff in den letzten Jahren arg mitgespielt hatte, besaß er noch immer seinen Glauben an Gott. Es musste mehr geben als nur das sichtbare Universum. Manchmal stellte er sich den Himmel wie London vor: Auf dem Thron saß der Allmächtige, erhabener noch als Queen Victoria im Buckingham Palace, und davor drängten sich die Cherubim, Seraphim, alle möglichen Engelssöhne eben. Einige waren dem Thron ganz nahe, damit sie ihrem Vater jeden Wunsch von den Augen ablesen konnten, und andere, die Rebellen, schmachteten im Tower (der heilige Petrus hatte diesen Ort Tartarus genannt). Diese gefallenen Engel hatten sich selbst zu Dämonen gemacht, indem sie Gottes größtem Widersacher nachfolgten: Satan, dem Teufel.
    Jeff betrat die Kirche und suchte sich einen freien Platz in einer der hinteren Bänke. Vor ihm saß ein hoch gewachsener Mann in einfacher Kleidung, eine ideale Deckung, um dem bohrenden Blick des Geistlichen zu entgehen.
    Schon bald erschien der Pater. Er betrat das Gotteshaus durch einen Seiteneingang. Obwohl das Gesicht des asketisch schlanken Mannes in Kontrast zu seinem schwarzen Habit nie wirklich rosig gewirkt hatte, kam es Jeff an diesem Tage noch blasser vor als sonst, geradezu aschfahl. Pater Garricks Miene prägte eine ungewohnte Verbissenheit. Vielleicht plagte den Gottesmann mit dem schütteren Haar ein verborgenes Leiden. Oder die Last der Worte, die er nun gleich zu Gehör bringen musste.
    Pater Garrick erklomm in seltsam steifer Haltung die Kanzel, die mittig im Kirchenschiff aufgestellt war. Von hier
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