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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake
Autoren: China Miéville
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lahm. »Wenn Sie Fragen haben, können Sie die am Ende stellen. Unsere Zeit ist ein wenig knapp. Wir sollten zuerst unseren Rundgang machen.«
    Kein Kurator oder Wissenschaftler musste solche Führungen veranstalten. Aber viele taten es. Billy beschwerte sich nicht mehr, wenn er an der Reihe war.
    Sie gingen hinaus und durch den Garten zum Darwin Centre, das auf der einen Seite von einem Baugelände flankiert wurde und auf der anderen von dem Ziegelgemäuer des Natural History Museum.
    »Bitte nicht fotografieren«, sagte Billy. Ihm war gleichgültig, ob sie diese Bitte befolgten: Er hatte die Pflicht, alle Besucher darauf aufmerksam zu machen. »Dieses Gebäude wurde im Jahr 2002 in Betrieb genommen«, sagte er. »Und wie Sie sehen, expandieren wir weiter. Im Jahr 2008 residieren wir in einem neuen Gebäude. Das Darwin Centre unterhält sieben Etagen mit Nasspräparaten. Das heißt, mit Präparaten in Formalinlösung.«
    Wie immer machte sich in den Gängen ein strenger Geruch bemerkbar. »Lieber Himmel«, murmelte jemand.
    »Sie sagen es«, meinte Billy. »Diese Abteilung wird Dermestarium genannt.« Durch kleine Fenster waren Stahlbehälter zu sehen, die kleinen Särgen glichen. »Hier säubern wir Skelette und entfernen sämtliche schleimigen Bestandteile. Dabei hilft uns Dermestes maculatus.«
    Auf einem Computerbildschirm bei den Behältern war zu beobachten, wie eklig aussehende Fische von Insektenschwärmen aufgefressen wurden. »Igitt«, sagte jemand.
    »In dem Behälter befindet sich eine Kamera«, erklärte Billy. »Dornspeckkäfer heißen die Tierchen eigentlich, aber wir nennen sie Knochenkäfer. Sie fressen alles und lassen nur die Knochen übrig.«
    Der Junge grinste und zog an der Hand seines Vaters. Die anderen in der Gruppe lächelten verlegen. Fleisch fressende Käfer: Das Leben konnte manchmal wie ein billiger Horrorfilm sein.
    Billy fiel einer der jüngeren Männer auf. In seinem unmodernen Anzug vermittelte er einen Eindruck von schäbiger Eleganz, der seltsam wirkte bei jemandem, der so jung war. An seinem Revers trug er eine Anstecknadel in Form eines Sterns mit überlangen Strahlen, von denen zwei in einem Kringel endeten. Der Mann machte sich Notizen und füllte eilig die Seiten seines Schreibblocks.
    Billy, Systematiker aus Leidenschaft wie auch aus rein beruflichen Gründen, hatte festgestellt, dass sich nur ganz bestimmte Typen von Menschen für diese Führung begeistern konnten. Da waren zuerst einmal Kinder: vorwiegend Jungen, schüchtern und außer sich vor Aufregung, die eine Menge über das wussten, was sie zu sehen bekamen. Dann waren da ihre Eltern. Dann gab es die linkischen Typen in den Zwanzigern, genauso voll blinden Eifers wie die Kinder, und dazu noch deren Freundinnen und Freunde, die sich sichtlich um Geduld bemühten. Hinzu kamen ein paar Touristen, die sich offensichtlich hierher verirrt hatten.
    Und es gab die Besessenen.
    Sie waren die Einzigen, die mehr wussten als die Kinder. Manchmal sagten sie nichts; manchmal unterbrachen sie Billys Ausführungen mit zu lauten Fragen, oder sie korrigierten ihn in wissenschaftlichen Details mit ermüdend kleinlicher Besorgnis. In den vergangenen Wochen hatte die Zahl dieser Besucher zugenommen.
    »Es ist fast so, als kämen im Spätsommer die Verrückten aus ihren Löchern«, hatte Billy vor ein paar Tagen zu seinem Freund Leon gesagt, als sie in einem Pub an der Themse ein Bier tranken. »Heute kam jemand rein, der ein Sternenflottenkostüm trug. Leider nicht während meiner Schicht.«
    »Faschist«, hatte Leon ihn tituliert. »Warum hegst du solche Vorurteile gegenüber Sonderlingen?«
    »Ich bitte dich«, sagte Billy. »Wenn es so wäre, würde ich mich doch selbst treffen, oder etwa nicht?«
    »Ja, aber du gehst noch als halbwegs normal durch. Du kannst dich tarnen«, entgegnete Leon. »Du kannst dich aus dem Ghetto der Sonderlinge hinausschleichen, dein Abzeichen verstecken und Nahrungsmittel und Kleider und Nachrichten aus der Welt draußen mitbringen.«
    »Mmm, wie geschmackvoll.«
    »Alles klar?«, sagte Billy, als Kollegen an ihm vorbeigingen. »Hi, Kath«, grüßte er eine Ichthyologin; »Hallo, Brendan«, einen anderen Präparator, der seinen Gruß erwiderte: »Alles klar, Röhrchen?«
    »Bitte gehen Sie weiter«, sagte Billy. »Und keine Sorge, wir kommen noch zu den guten Sachen.«
    Röhrchen? Billy konnte erkennen, dass ein oder zwei seiner Begleiter sich fragten, ob sie sich verhört hatten.
    Der Spitzname ging auf
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