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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake
Autoren: China Miéville
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glaubte, ein Geräusch zu hören. Ein fernes Klirren und Klimpern wie von einem heruntergefallenen und herumrollenden Becherglas. Es war nicht das erste Mal, dass er etwas Derartiges hörte. Solche völlig unmotivierten Geräusche vernahm er, seit er sein erstes Jahr im Darwin Centre hinter sich gebracht hatte. Mehr als einmal hatte er auf der Suche nach der Ursache die Tür eines gänzlich leeren Raums geöffnet oder ein leises Knirschen von Glas in einem Korridor gehört, in dem sich niemand aufgehalten haben konnte.
    Er hatte schon vor einiger Zeit entschieden, dass diese eigentümlichen Laute gerade eben an der Grenze seiner Wahrnehmung nur in seinem Geist existierten. Gewöhnlich traten sie auf, wenn er sehr angespannt war. Er hatte mit Bekannten über dieses Phänomen gesprochen. Einige hatten ihn gewarnt, vorsichtig zu sein, doch viele berichteten von Gänsehaut oder seltsamen Zuckungen, wenn sie unter Druck standen, also machte er sich keine großen Sorgen deswegen.
    Im großen Saal suchten die Kriminaltechniker noch immer nach Fingerabdrücken, sie fotografierten den Tatort und maßen Tische aus. Billy verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.
    »Das waren diese Mistkerle aus Kalifornien.« Als er zu den Kollegen zurückkehrte, machte er ein paar scherzhafte Bemerkungen zu rivalisierenden Forschungsinstituten. Und darüber, dass womöglich Meinungsverschiedenheiten über Konservierungsverfahren eine dramatische Wende genommen hatten. »Das waren die Kiwis«, sagte Billy. »O'Shea hat der Versuchung am Ende doch nachgegeben.«
    Er kehrte nicht sofort in seine Wohnung zurück, denn er hatte sich schon vor einer ganzen Weile mit einem Freund verabredet.
    Billy kannte Leon, seit sie als Studenten im selben Institut gearbeitet hatten, wenn auch in unterschiedlichen Abteilungen. Leon arbeitete an seiner Promotion in Literaturwissenschaft, redete jedoch nie darüber. Schon seit einer halben Ewigkeit arbeitete er an einem Buch mit dem Titel Uncanny Blossom. Als Leon es ihm einmal offenbarte, hatte Billy erwidert: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du an dem Wettstreit um den beschissensten Buchtitel teilnimmst.«
    »Wenn du nicht ständig in deinem Sumpf der Ignoranz herumwaten würdest, wüsstest du, dass dieser Titel eine Herausforderung für die Franzosen sein soll. Keines der Worte lässt sich in ihre lächerliche Sprache übersetzen.«
    Leon wohnte in einem gerade noch erträglichen Randbezirk von Hoxton. Er überzog seine Rolle als Vergil neben Billys Dante-Darstellung, indem er seinen Freund zu Kunst-Happenings mitnahm oder ihm von denen berichtete, an denen Billy nicht teilnehmen konnte, und dabei hoffnungslos übertrieb, was ihren Verlauf betraf. Ihr Spiel sah so aus, dass Billys Anekdotenkonto permanent im Minus und er Leon ständig Geschichten schuldig war. Leon, hager, kahl rasierter Kopf, bekleidet mit einer albernen Jacke, saß in der Kälte vor der Pizzeria und streckte seine langen Beine von sich.
    »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Richmal?«, rief er. Er hatte schon vor längerer Zeit beschlossen, dass der blauäugige Billy nach einem anderen unartigen Jungen, nämlich dem William aus Just William, benannt worden war, und ihm völlig unlogischerweise den Vornamen des Autors verliehen.
    »Chipping Norton«, sagte Billy und tätschelte Leons Kopf. »Theydon Bois. Was macht das Geistesleben?«
    Marge, Leons Partnerin, hob den Kopf für einen Kuss auf die Wange. Das Kruzifix, das sie um den Hals trug, funkelte.
    Er hatte sie nur ein paar Mal getroffen. »Ist sie eine von den Gottesfürchtigen?«, hatte Billy seinen Freund gefragt, nachdem er sie kennengelernt hatte.
    »Eigentlich nicht. Sie war auf einer Klosterschule. Daher das jesusförmige Sühnezeichen zwischen ihren Titten.«
    Sie war, wie die überwiegende Mehrzahl von Leons Freundinnen, attraktiv und ein wenig üppig gebaut, etwas älter als Leon und eindeutig zu alt für den nicht ganz konsequent durchgehaltenen emo-gruftigen Look, den sie pflegte. »Wenn du sie rubenshaft oder drall nennst, tust du es auf eigene Gefahr«, hatte Leon gewarnt.
    »Was verstehst du unter drall?«, fragte Billy.
    »Und vergiss ›zu alt‹, Pauley Perrette ist um einiges älter.«
    »Wer ist das?«
    Marge arbeitete halbtags im Southwark Housing Department und produzierte Videokunst. Sie hatte Leon während eines Auftritts kennengelernt, als irgendeine Drone-Band in einer Galerie spielte. Leon hatte Billys Simpsons-Witz abgefangen und ihm erklärt, sie sei
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