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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake
Autoren: China Miéville
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Geplapper gönnen. Die Wände des Saals wurden ebenfalls von Regalen gesäumt. Da gab es Hunderte weiterer Glasbehälter in allen Größen, einige fast brusthoch, andere so unscheinbar wie ein Wasserglas. Sie alle enthielten traurige Tiergesichter. Die Exponate unterstanden einer linnéschen Ordnung, die innerhalb jeder Art einem Merkmalsgefälle gehorchte. Und dann waren da noch Stahlbehälter, Flaschenzüge, die wie Schlingpflanzen herabhingen. Niemand würde darauf achten. Alle würden nur den riesigen Tank in der Mitte des Saals anstarren.
    Deswegen waren sie gekommen, wegen dieses rosigen gigantischen Dings. Trotz seiner Bewegungslosigkeit; trotz der Wunden seines zeitlupenhaften Zerfalls, trotz der Schorfflocken, die die Lösung trübten, in der es schwamm; trotz der verschrumpelten und nicht mehr vorhandenen Augen; trotz seiner abstoßenden Farbe; trotz des verdrehten Gewimmels seiner Gliedmaßen, als würde es von einer gigantischen Hand ausgewrungen. Trotz all dem war es dieses Ding, weshalb sie hier waren.
    Es hing dort, eine tentakelbewehrte Erscheinung von grotesken Ausmaßen. Architeuthis dux. Der Riesenkalmar.
    »Er ist acht Meter zweiundsechzig lang«, würde Billy schließlich erklären. »Nicht der größte, der je beobachtet wurde, aber auch kein Knirps.« Die Besucher würden sich um das gläserne Becken drängen. »Gefunden wurde er im Jahr 2004 vor den Falkland-Inseln.
    Er schwimmt in einer salzhaltigen Formalinlösung. Der Behälter stammt vom gleichen Hersteller, der auch Damian Hirst beliefert. Sie wissen schon, das ist der Künstler, der einen Haifisch in Formalin zum Kunstwerk erklärt hat.« Alle Kinder würden dem Kalmar auf den Leib rücken, so dicht sie konnten.
    »Seine Augen, wenn vorhanden, hätten einen Durchmesser von dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Zentimetern«, würde Billy sagen. Die Erwachsenen maßen dann mit den Fingern nach, und die Kinder rissen die Augen auf. »Ja, so groß wie Speiseteller.« Er sagte es jedes Mal und dachte dabei jedes Mal an den Hund von Hans Christian Andersen. »Aber es ist sehr schwierig, Augen frisch zu halten, deswegen sind sie nicht mehr da. Wir haben den Kalmar mit dem gleichen Zeug gefüllt, das in dem Becken ist, um zu verhindern, dass er von innen verfault.
    Er wurde lebendig gefangen.«
    Das würde bei allen wieder einen Seufzer des Erstaunens auslösen. Visionen von einem Gewimmel von Tentakeln, zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, ein Kampf mit der Axt gegen ein Höllenwesen aus der Tiefe. Ein raubtierhafter Fleischkoloss, ausrollende Gliedmaßen, die eine Schiffsreling mit gespenstischem Verständnis ertasten.
    So war es gar nicht gewesen. Ein Riesenkalmar an der Wasseroberfläche war ein schwaches, desorientiertes, dem Tod geweihtes Wesen. Voll panischer Angst vor Luft, unter der Last seines eigenen Gewichts zusammengepresst, hatte das Tier wahrscheinlich durch seinen Sipho Luft angesogen und war gelähmt worden, eine sterbende Gallertmasse. Das machte nichts. Aus seinem augenblicklichen Zustand ließ sich kaum ableiten, wie es früher gewesen war.
    Der Kalmar würde mit seinen leeren, handspannengroßen Augenhöhlen aus dem Becken herausstarren, und Billy würde die üblichen Fragen beantworten - »Sein Name ist Archie.«
    »Nach Architeuthis. Verstanden?«
    »Ja, obwohl wir glauben, dass es ein Weibchen ist.«
    Als das Tier eingetroffen war, eingewickelt in Eis und schützende Tücher, hatte Billy geholfen, es auszupacken. Er hatte das tote Fleisch massiert und das Gewebe geknetet, um festzustellen, wie weit die Konservierungsflüssigkeit eingedrungen war. Er hatte sich so sehr auf seine Tätigkeit konzentriert, dass er den Kalmar gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Erst als die Arbeit getan war und das Geschöpf in seinem Tank ruhte, war Billy bewusst geworden, was er da wirklich vor sich sah. Wenn er sich von dem Tier entfernte oder sich ihm näherte, hatte die Lichtbrechung den Eindruck erzeugt, es rege sich, eine magische, reglose Bewegung.
    Es war kein klassisches Typ-Präparat, kein platonischer Stoff, der als Definitionsgrundlage ähnlicher Stoffe diente. Dennoch war der Kalmar vollständig, und er würde niemals zerteilt werden.
    Irgendwann würden auch andere Präparate im Saal einen Teil der Aufmerksamkeit der Besucher an sich reißen. Ein bandförmiger Riemenfisch, ein Ameisenigel, Gläser mit Affen. Und dort, am Ende des Saals, stand eine Glasvitrine mit dreizehn kleinen Behältern.
    »Weiß jemand, was das ist?«,
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