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Der Krake

Der Krake

Titel: Der Krake
Autoren: China Miéville
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würde Billy fragen. »Ich zeige es Ihnen.«
    Sie stachen hervor durch die sich braun färbende Tinte und die veraltete, kantige Handschrift, mit der sie etikettiert waren. »Sie wurden von einer ganz besonderen Person gesammelt«, würde Billy zu einem der Kinder sagen. »Kannst du dieses Wort lesen? Weiß jemand, was es bedeutet? Die ›Beagle‹?«
    Einige Besucher erkannten es. Diejenigen betrachteten staunend die kleine Sammlung, die dort unglaublicherweise in einer schlichten Vitrine ausgestellt war. Kleine Tiere, vor zwei Jahrhunderten zusammengetragen, eingeschläfert, präpariert und katalogisiert während einer Reise in die Südamerikanische See von dem jungen Naturforscher Charles Darwin.
    »Das hat er persönlich geschrieben«, würde Billy erklären. »Er war damals noch jung und hatte noch keine seiner bedeutenden Thesen ausgearbeitet, als er diese Exemplare fand. Es waren unter anderem diese Exponate, die ihn überhaupt erst auf die Idee zu seiner grandiosen Theorie gebracht haben. Das sind keine Finken, aber mit diesen Präparaten hat alles begonnen. Übrigens können wir in Kürze wieder den Jahrestag seiner Reise feiern.«
    Sehr selten kam es vor, dass jemand versuchte, mit ihm über Darwins Erkenntnisse zu diskutieren, eine Debatte, auf die Billy gut und gern verzichten konnte.
    Sogar diese dreizehn gläsernen Grundlagen der Evolutionstheorie und all die in Jahrhunderten zusammengetragenen bräunlichen Krokodile und teilweise grotesken Tiefseelebewesen erweckten neben dem Kalmar nur ein geringes Interesse bei den Besuchern. Billy kannte die Bedeutung der Darwin-Exponate, die den Besuchern zumeist gar nicht bewusst war. Egal. Wenn man diesen Saal betrat, geriet man in den Schwarzschild-Radius von etwas Unheimlichem, und dieser Kopffüßerkadaver war die ihm innewohnende Singularität.
    So würde es, wie Billy wusste, ablaufen. Aber als er diesmal die Tür öffnete, blieb er stehen und starrte sekundenlang verständnislos drein. Die Besucher kamen nach ihm herein und drängten sich an ihm vorbei. Sie warteten gespannt und wussten nicht recht, was ihnen hier gezeigt werden sollte.
    In der Saalmitte war nichts. Die Präparate in den zahllosen Glasbehältern blickten auf den Ort eines Verbrechens. Der neun Meter lange Glasbehälter mit seinen mehreren Tausend Litern salzhaltigen Formalins, der tote Riesenkalmar, sie waren verschwunden.

2
    Sobald Billy Alarm schlug, wurde er von Kollegen umringt. Sie schauten sich ratlos um und wollten wissen, was im Gange sei, und wo, zum Teufel, war der Riesenkalmar?
    Sie führten hastig die Besucher aus dem Gebäude. Alles, was Billy im Nachhinein von dem Durcheinander im Gedächtnis blieb, war der kleine Junge, der weinte, weil ihm nicht gezeigt worden war, was er so gerne hatte sehen wollen. Biologen, Wächter, Präparatoren erschienen und starrten mit ratlosen Mienen auf die Riesenlücke im Kalmar-Saal. »Was ...?«, fragten sie genauso wie Billy kurz vorher und: »Wo ist ...?«
    Die Neuigkeit verbreitete sich. Leute rannten umher, als suchten sie etwas, als hätten sie etwas verlegt und hofften, es vielleicht in irgendeinem Schrank zu finden.
    »Das kann nicht sein, das kann nicht sein«, sagte eine Biophysikerin namens Josie, und ja, nein, sie konnten nicht verschwunden sein, so viele Meter Tiefseefleisch konnten nicht einfach weg sein. Nirgendwo stand ein verdächtiger Kran. Keinerlei cartoonhafte Löcher in Becken- oder Kalmarform klafften in der Wand. Der Kalmar konnte nicht verschwunden sein, und doch war er nicht da.
    Für das hier gab es keinen Aktionsplan. Was bei einem chemischen Unfall zu tun war - dafür gab es Verhaltensregeln. Wenn ein Formalinglas mit Präparat zu Bruch ging, wenn irgendwelche Ergebnisse nicht aufgingen, ja, wenn ein Teilnehmer an einer Führung plötzlich durchdrehte, dann hielt man sich an eine bestimmte Verfahrensweise. Aber dies, dachte Billy. Was zum Teufel sollte das?
    Die Polizei traf ein und platzte wie eine trampelnde Bande in das Museum. Das Personal stand abwartend herum und drängte sich zusammen, als fröre es, wie nach einem Tauchgang in benthalem Wasser. Polizeibeamte versuchten, den Angestellten irgendwelche Aussagen zu entlocken.
    »Ich fürchte, ich verstehe das Ganze nicht ...«, brachte einer von ihnen halbwegs zusammenhängend hervor.
    »Er ist weg!«
    Der Tatort wurde gesichert und abgesperrt, aber da Billy die Tat entdeckt hatte, durfte er bleiben. Er machte seine Aussage, während er neben dem leeren Podest
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