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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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»Ich könnte einen Grorg
verdrücken.«
    Danach gab es ein paar leichte Rückfälle; hin und wieder
tauchte das eine oder andere Goth-Porträt auf ihrem Zeichenblock
auf, aber das war alles nicht so schlimm, daß ich
fürchtete, sie hätte wieder ihr ›Ich‹
verloren.
    Nach dem neunten Apfel überwand Lilit ihre Sucht nach
Schoko-Gummibomben. »Die Dinger sind wirklich schrecklich«,
erklärte sie. »Ich sehe ja schon wie eine Wärmflasche
aus.«
    Nach dem zehnten Apfel bekamen Lilits Haare wieder Farbe.
    Nach dem elften Apfel fingen Lilit und Jonnie in aller
Öffentlichkeit mit etwas an, was ich in meiner Rezension von Altäre des Herzens als ritualisierte Unzucht bezeichnet
hatte. Sie küßten sich beim Essen, umarmten sich beim
Spazierengehen und streichelten sich bei Psychobillardturnieren.
    Nach dem zwölften Apfel brachte mir Lilit eine ihrer
Zeichnungen. Sie zeigte das Labyrinth des lauernden Lügners, nur
daß die Statuen im Zentrum normale Köpfe und keine
Totenschädel hatten. Ein Pferd weidete im grünen Gras. Es
stand genau da, wo der Ziegenbock gestorben war. Es war das
größte, gesündeste, am besten gezeichnete Pferd, das
ich je gesehen hatte. Selbst Quinjin der Kritiker mochte es.
    Ich zeigte das Bild Urilla, und sie sagte: »Offenbar ist sie
geheilt.«
    Offenbar.
    Und dennoch glaubte ich es nicht so recht, bis ich wieder auf
Zahrim war und an meiner eigenen Geburtstagsparty teilnahm. An diesem
Tag wurde ich fünfundvierzig. Jonnie schenkte mir ein Exemplar
von Bekannte Mengen, das er in den Gefrierschränken der Fleischtopf aufbewahrt hatte. Von Clee Selig bekam ich eine
Lucaizai-Skulptur, die wie ein wildgewordener Obstsalat aussah.
Urilla beglückte mich mit einer Verführung.
    Und Lilit schenkte mir ein Kätzchen.
    »Das schulde ich dir«, sagte sie.
    Das Kätzchen war weiblich, aber ich nannte es trotzdem
Puschkin.
     
    Dies ist eine Geschichte mit mehreren Happy Ends. Ihren Helden
geht es ausnahmslos gut; sie sind weder irgendwelchen Allheilmitteln
noch Göttern, Neurosen oder dem Kidnip verfallen. Zwar sind sie
bis jetzt noch nicht gestorben, aber ob sie noch leben, wenn Sie die Geschichte lesen, weiß ich natürlich nicht.
    Ich wünschte natürlich, ich könnte immer noch
Träume rezensieren, und mein Kopf muß meinem Bauch
mindestens einmal pro Tag klarmachen, daß es keine Sünde
war, Simon Kusk zu töten. Aber ich bin nicht unzufrieden. Meine
dreibändige Geschichte des Mediums, Unsere gemeinsamen
Träume, hat sich ganz beachtlich verkauft und gute Kritiken
bekommen, die ich selbst geschrieben haben könnte.
Außerdem habe ich ja auch meine geliebte Urilla, deren Libido
die Nachricht, daß sie fünfundsechzig ist, bis jetzt noch
nicht vernommen hat. Eines Tages heiraten wir vielleicht, obwohl
– mit Urillas Worten – ›Heiraten nur was ist, wenn man
Kinder will‹. Urilla und ich haben uns vor langer Zeit gegen
Kinder entschieden. Ein großes Werk, eine große
Zusammenarbeit hat uns gereicht.
    Der Leser weiß vielleicht nicht, daß Urilla jene
Urilla Aub ist, die ein populäres Buch mit dem Titel Kerne
des Denkens geschrieben hat. Es war keine Überraschung,
daß sie nach der Ausrottung des Schlingbaums ihren eigentlichen
Beruf als Psychobiologin wieder aufnahm. Kerne des Denkens lehrt, wie man verhindert, daß ›unerfreuliche
Gedanken‹, wie Urilla sie nennt, unwillkürlich ins
Bewußtsein eindringen. Eine nützliche Technik. Das Buch
verkauft sich so gut, daß ich vielleicht nie mehr in meinem
Leben einen neuen Liegestuhl kaufen muß. Aber falls doch mal
harte Zeiten kommen sollten, können wir wohl immer mit einer
milden Gabe unseres Schwiegersohns rechnen.
    »Zu jung zum Heiraten«, sagte Urilla immer wieder, aber
Jonnie und Lilit taten es trotzdem. Es dauerte nicht lange, da trafen
sie sich beide mit anderen Leuten – jungen Ehepaaren sagt eine
Formulierung wie ›sich mit anderen Leuten treffen‹ mehr als
›bilateralen Ehebruch begehen‹ –, und ich stieß
etliche Seufzer der Erleichterung aus, daß sie bis dahin noch
kein Baby produziert hatten. Nach zwei Jahren auf jener Seite des
Zaunes, wo das Gras immer grüner ist, kehrten sie beide jedoch
wieder in den Schoß der Familie zurück; jetzt haben sie ein Baby, und ich bin ganz hin und weg. Es ist ein
Mädchen, und es heißt Darcy Quinjin Rondo. Es hat Jonnies
feuerrote Haare, Lilits Pausbacken, Talas’ Glockenstimme und
meine unauffälligen Ohren. Inmitten all der schmutzigen Windeln
und der ausgespuckten Milch rieche
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