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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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Bühnenanweisungen aus dem Schlaflehrer aufsagen können, ohne ein Komma
auszulassen.
    Horg schaltete die Pumpe ein. Das Blut im Brunnen begann zu
steigen.
    Urilla rannte durch den dornigen Gang. Sie umklammerte den
lebenswichtigen Schlüssel, wie es Lilit im lauernden
Lügner getan hatte. Sie wischte sich die Innereien des
Ziegenbocks von den Händen, wie es Lilit im lauernden
Lügner getan hatte. Sie kam aus dem Irrgarten und rannte
über die Wiese zum Brunnen, wie es Lilit im lauernden
Lügner getan hatte.
    Jetzt begannen unsere Abwandlungen. Als Urilla/Lilit in den
Brunnen schaute, sah sie keine wiederauferstandenen Ziegenböcke,
sondern nur ihren hilflosen Vater. Ich spielte die Rolle mit Methode.
Zähneklappernd vor Angst und Kälte zerrte ich an meinen
Ketten. Fleisch kämpfte mit überzeugender Vergeblichkeit
gegen Eisen. Ich hob das Vorhängeschloß auf und
täuschte mehrere Versuche vor, es am Felsen zu
zerschmettern.
    »Lilit!« schrie ich. »Rette mich,
Liebling!«
    Das Blut stieg höher.
    Mit dem Schlüssel in der Hand sprang Urilla/Lilit in den
Brunnen und durchschwamm das Blut. Sie kletterte auf den Felsen,
steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn rasch
herum. Der innere Mechanismus ächzte. Der Verschluß sprang
auf. Ich war frei.
    Wir standen dicht beieinander, hielten uns in den Armen und
ließen uns gar nicht mehr los.
    In diesem Moment merkte ich, wie ich gegen die sexuelle Erregung
ankämpfte, die Urillas Nähe naturgemäß bei mir
auslöste. Ich hatte Erfolg. Ich hatte nicht vor, Lilit vom lauernden Lügner zu befreien, nur um ihr dafür ein
Inzesttrauma anzuhängen.
    Urilla/Lilit sagte einen ihrer beiden Sätze.
»Vater!«
    »Meine tapfere Tochter«, antwortete ich. »Jetzt
bist du kein Kind mehr.« Das hatte Urilla geschrieben. Damals
gefiel es mir, obwohl ich es jetzt etwas dick finde.
    Das Blut schwappte gegen unsere Schienbeine.
    Jede Traumkapsel muß actionmäßig einen
Höhepunkt haben. Vom Grund des Brunnens kam ein Ungeheuer
herauf, das eindrucksvollste Requisit in Kusks ganzer Sammlung. (In
dem Moment, als wir auf das Ding gestoßen waren, wußten
wir, daß wir es irgendwie ins Skript einarbeiten mußten.)
Es war abscheulich. Zu seinen unmittelbaren Vorfahren gehörten
der Tintenfisch, der Hummer, der Skorpion, der Grorg und solche
Krankheiten wie Krebs und die Beulenpest. Es hatte Hörner. Es
hatte Reißzähne. Es hatte Schuppen. Es hatte lange
Eckzähne. Es hatte vier Augen. Horg konnte es mit einem
Funksender steuern.
    Das Monster richtete sich auf seine hinteren Flossen auf,
ließ seinen mit Stacheln gespickten Schwanz hin und her
peitschen und glitt auf Urilla/Lilit und mich zu. Es brüllte.
Feuer schoß wie der Flammenstrahl eines Schweißbrenners
aus seinem Rachen. Als das Ungeheuer sein Maul schloß, ging
Urilla/Lilit zum Gegenangriff über. Sie legte die Hände
aneinander und verschränkte die Finger, eine Geste, mit der man
entweder beten oder auf jemanden einschlagen kann. Sie hob ihre
verklammerten Hände hoch über den Kopf und brachte sie
ruckartig – krunch! – auf die Schnauze des Monsters
herunter. Noch einmal – krunch! Und noch einmal. Nach dem
dritten Schlag versank das Monster in der roten Tiefe, um nie wieder
die Träume eines Menschen zu verdunkeln.
    »Lilit, meine Freundin«, rief eine Stimme. »Du hast
gesiegt!«
    Wir hoben den Blick zum oberen Rand des Brunnens. Dort wartete
Jonnie wie ›die Inkarnation aller schönen Prinzen in allen
Märchen, die je geschrieben wurden‹ (so stand es im
Skript). Er zog das Seil aus dem Hemd, hielt ein Ende fest und warf
die Rolle zu dem überschwemmten Felsen hinunter. Das Seil
entrollte sich problemlos. Urilla/Lilit fing es mitten in der Luft
auf und – beau geste – hielt es mir hin.
    Jonnie stieß sein Schwert bis zur Parierstange in den Boden
und befestigte das Seil mit ›einem eleganten, bildschönen
Knoten‹ am Griff.
    Hand über Hand zog ich mich aus dem Brunnen. Urilla/Lilit kam
direkt hinter mir. Wir kauerten uns alle drei kurz auf dem Rasen
zusammen und sahen zu, wie der Atem aus unseren Mündern quoll,
das Lächeln auf unseren Gesichtern strahlte und das Blut aus
unseren Kleidern tropfte.
    Jonnie führte Urilla/Lilit zum Eingang des Irrgartens. Von
Dornen aufgespießt, lag ein schwarzer Umhang, den wir in einem
der Kostümräume erbeutet hatten, ausgebreitet über
einem Stück der Hecke. Jonnie nahm den Umhang weg und warf ihn
verächtlich ins Gras.
    »Der lauernde Lügner ist fort«, sagte er.
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