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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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Mühe gaben. Ninnghizzidas Licht fiel auf die
Melone. Urilla bekam einen Heiligenschein. Ich ging hin und klopfte
an ihren Metallschädel.
    »Gib alles da rein, was du hast«, sagte ich.
    »Ich werd mir den Kopf abträumen, verdammt noch
mal«, antwortete sie.
    Damals waren wir richtige Künstler.
     
    Zwei Stunden später versammelten wir uns in Kusks
Phrensamenschule. Die Computer summten. Die Gen-Synthetisierer
gurgelten. Wir standen Schulter an Schulter um eine Petrischale
herum. Das Produkt unserer Zusammenarbeit schlummerte friedlich.
Seine Hülse war dick und rosig. Eine Wurzel streckte sich
bereits heraus, wie ein Schnabel aus einem Ei.
    Der Samen bekam eine glänzende Kritik von mir. Ich
bezeichnete ihn als brillant.
    »Er hat deine Ohren, Quinny«, sagte Urilla.
    »Laßt uns den Burschen einsetzen«, meinte
Jonnie.
     
    Als Horg mich fand, war ich in Kusks Arbeitszimmer, wo ich die
diversen Tierhabitate abbaute und in Kisten verfrachtete, so
daß sie in den Zoologischen Garten von Ushumgallum
abtransportiert werden konnten. Er kam mit solcher Lautstärke
und so plötzlich herein, daß ich beinahe das Aquarium mit
dem Aal fallengelassen hätte. Als ich aufschaute, sah ich eine
Acht aus Fadenwurmstücken auf Horgs Kittel, Überreste
seiner Entscheidung, das Möbiusband abzureißen und
wegzuwerfen.
    »Die Ernte ist da!« brüllte er. »Wir haben
Äpfel!«
    Ich rannte mit ihm um die Wette zum Fahrstuhlschacht und
gewann.
    Mittlerweile hatte ich mich an das zerstörte Innere des
Gewächshauses gewöhnt. Ich war etwa alle vier Stunden
einmal hergekommen, weil ich es gar nicht erwarten konnte, den
Lebensbaum aus dem dunklen Erdboden sprießen zu sehen, und weil
ich es später – als das Geschöpf tatsächlich
Wurzeln geschlagen hatte – ebensowenig erwarten konnte, ein
Zeichen dafür zu sehen, daß er Früchte tragen
würde. Der Garten war ein einziges Meer aus Asche, dessen
Oberfläche von verkohlten Stümpfen durchbrochen wurde. Die
Stümpfe sahen wie Grabsteine aus, Gedenkzeichen auf den
Gräbern der namenlosesten, gottverlassensten Mißgeburten
der Galaxis. Kusks Sämlinge hatten ihrem eigenen Tod ein Denkmal
gesetzt. Unser Lebensbaum wuchs unpassenderweise zwischen den
geschwärzten Grabhügeln empor und trotzte der Vernichtung,
ein Juwel in einer Fassung aus Rost.
    Als ich eintrat, wehten mir zwei intensive, verschiedenartige
Gerüche entgegen. Ich roch verbranntes Holz; das kannte ich,
damit hatte ich gerechnet. Und ich roch eine wundersame
Süße, den Duft all dessen in der Schöpfung, das in
diesem Augenblick jung und lebendig war und einen neugierigen Blick
in die Zukunft warf.
    Die Schlingbäume waren schon immer eine seltsame Gattung
gewesen. Von dem Moment an, als Selig ihre Erfindung bekanntgab,
hatten sich Mythen um sie gebildet. Jeder millionste Baum ist
heilig, lautete ein Mythos. Und wenn dieser millionste Baum
die Menschheit glücklich machen will, wird er Blüten
hervorbringen, deren Duft allein Schmerzen besiegen und Unglück
heilen kann.
    Unser Baum blühte. Ich sah rote Blüten, orangefarbene
Blüten, gelbe Blüten, das ganze langwellige Ende des
sichtbaren Spektrums, Blütenblätter, so weich und sanft wie
die Ohren eines Luchses, Blätter aus organischem Samt. Die
Blüten schmückten den Baum von oben bis unten, verdeckten
alle Äste und verwandelten ihn in ein riesiges Bouquet.
Ergriffen blieb ich stehen, atmete tief ein und genoß den
Duft.
    Jonnie stand im Kostüm des lauernden Lügners unter dem
Geäst. Als ich zu ihm trat, streckte er die Hand zu einer
Blütentraube aus und zog sie wie einen Vorhang beiseite, der ein
winziges Märchenreich verdeckt. Die Lotoskapsel, die ich sah,
war reif und dick, eine vollkommene goldene Kugel. Ninnghizzida
schien auf ihre verlockende Schale.
    Jonnie pflückte das Antitrauma und verbarg es in der
Brusttasche seines Umhangs. »Ich habe Lilit holen lassen«,
sagte er und setzte seine Kapuze auf. »Wir dürfen keine
Zeit verlieren.«
    Horg und ich versteckten uns hinter dem Werkzeugschuppen. Dort war
es heiß. Der Gärtner hatte die Folgen meiner Attacke gegen
die Wand des Gewächshauses pflichtbewußt repariert, und so
wehte keine kühle Brise von der Tundra herein. Während wir
warteten, kam mir ein Vers in den Sinn, ein Reim aus dem terranischen
Zeitalter, den ich zugleich furchtbar und bewegend fand.
     
Ein Narr wie ich, der schreibt wohl ein Gedicht
    Doch Gott allein bringt einen Baum ans Licht
     
    Jonnie marschierte nervös unter dem Sämling
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