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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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nannten sie Hirneier. »Schalt deine Kamera ein«,
fuhr Francie fort, wobei sie süffisant vom Vidiphonschirm
herabgrinste. »Ich mag’s nicht, wenn ich mit meinem
geistigen Bild von dir sprechen muß.«
    Francies geistiges Bild von mir war an diesem Morgen damals
wahrscheinlich ziemlich positiv – in jenen Tagen, vor meinen
Abenteuern mit den Todesbäumen, war ich nicht gerade
häßlich –, und ich wollte nicht, daß es durch
irgend etwas getrübt wurde. Indem ich meine Kamera ausgeschaltet
ließ, verhinderte ich, daß sie meinen zerknitterten
Pyjama und mein Stoppelkinn sah – ganz zu schweigen von dem
kahlen Fußboden, den nackten Glühbirnen, dem rissigen
Putz, den Strandmöbeln und anderen Zeichen der Armut, die in
meiner Wohnung überhandnahmen. Aus purem Stolz zog ich es vor,
Francie im Glauben zu lassen, daß meine Einkünfte von Traumkapseln Entschlüsselt nur ein hübsches
Taschengeld zusätzlich zu meinen Unterrichtshonoraren und
Buchtantiemen seien, während ich davon in Wirklichkeit die Miete
und das Essen auf meinem Spieltisch bezahlte.
    Ich erklärte Francie, meine Kamera sei kaputt.
    »Mir kannst du nichts vormachen«, gab sie ruhig
zurück, beugte sich zu ihrer eigenen Kamera und verpaßte
sich damit eine Nahaufnahme. »Du willst doch bloß nicht,
daß ich den Trümmerhaufen sehe, den du als dein Zuhause
bezeichnest.«
    Ich glaube, ich liebte Francie Lern – ich brachte ihr jene
heimliche, halbbewußte Liebe entgegen, die man gern empfindet,
weil sie keinerlei Verpflichtungen umfaßt. Sie war zwanzig
Jahre älter als ich, und wenn man sie so sah, fand man es
plötzlich gar nicht mehr so schlimm, sechsundfünfzig zu
sein. Unsere persönliche Kommunikation beschränkte sich
vollständig aufs Vidiphon, so daß ich keine Ahnung hatte,
wie ihr Nacken aussah, obwohl ich vermutete, daß er genauso
fest und hübsch wie alles übrige war.
    »Morgen schicke ich dir unaufgefordert einen Artikel
über diesen Liebestraum, von dem ich dir erzählt
habe«, sagte ich. »Altäre des Herzens. Kein
großer Wurf, klar, und der Titel ist auch nicht unbedingt mein
Fall, aber ich mußte gegen die Tränen ankämpfen, und
wir sollten uns alle für ihn stark machen.« Der letzte Satz
ging wahrscheinlich etwas unter, als ich in dem erfolgreichen Versuch
vom Bildschirm wegtaumelte, Kater Basil davon abzuhalten, sich die
Schnurrbarthaare am Kaffee von gestern zu versengen, den mein
Computer soeben aufzuwärmen beschlossen hatte.
    »Laß gut sein«, sagte Francie. »Im Moment
besteht deine Aufgabe darin, deinen Mund zum Kathexis
rüberzuschaffen und die erste greifbare Frucht zu
verdrücken. An der Kasse wissen sie Bescheid, daß du
kommst.«
    »Was läuft denn da?«
    »Die Kröte der Nacht. «
    »Laß mich raten – eine Horrorkapsel.«
    »Eigentlich nicht. Hast du keine Nachrichten gehört?
Interessiert ihr Schreiberlinge euch denn für nichts außer Kaffee und Worten?«
    Mein Bildschirm zeigte, daß es in den Büros von Traumkapseln Entschlüsselt hinter Francie von
Mitarbeitern wimmelte, die sich an ihre Denkmaschinen anschlossen und
nach ihren Kaffeetassen tasteten.
    »Was ist mit der Kröte der Nacht?«
    »In der Presseerklärung wird sie als modernes
Märchen bezeichnet – eine Allegorie auf dieses alte
Stück von den Gebrüdern Grimm über den
Froschkönig.«
    »Von Allegorien krieg ich die Krätze.«
    »Jedenfalls gibt’s da gegen Ende so eine Szene, wo
jemand lebendig begraben wird.«
    »Zum Teufel, Francie, kann ich nicht ausnahmsweise mal
über was weniger Krudes berichten? Ich
wünschte…«
    »Da kommt also gestern so eine arme durchgeknallte
Zehnjährige namens Suzie Freed in den Salon, ißt den
Apfel, geht nach Hause, packt ihren kleinen Bruder Phillip in eine
Frachtkiste und versenkt die Kiste in Treibsand. Tod durch
Ersticken.«
    Das tat mir leid, aber ich war nicht gerade schockiert. Ich
wußte, daß Kunst – echte Kunst – nichts
für zarte Gemüter ist, und das Medium der Traumkapseln mit
seiner unerhörten Glaubwürdigkeit war besonders
berüchtigt dafür, daß es Leute zu Wahnsinnstaten
anstiftete. In der Tat folgte diese Suzie-Freed-Tragödie gleich
auf die Wendy-Cromb-Tragödie vom letzten Monat; da hatte sich
eine psychotische junge Frau vor eine Magnetschwebebahn geworfen,
nachdem sie sich Reinworts Adaptation von Anna Karenina zu
Gemüte geführt hatte. Und davor hatte es die
Paxton-Wolfe-Tragödie gegeben. Und davor die
Martin-Mergeron-Tragödie.
    »Warum gibst du mir immer so abgedrehte
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