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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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ich einen Menschen, der es zu
etwas bringen wird. Talas sehe ich nur noch auf den
Geburtstagsparties unserer Enkeltochter – Galaveranstaltungen,
die immer an Bord der Fleischtopf stattfinden. Talas und ich
sind unsagbar höflich zueinander. Wir beten Darcy Quinjin Rondo
an.
    Clee Selig ist gestorben – ein Herzanfall –, aber ich
würde sagen, es war trotzdem ein Happy End. Vor dem Schnitter
sind wir alle gleich. Sie wissen wahrscheinlich, daß er auf das
Ende der Traumkapseln reagierte, indem er die Olfaktoren erfand,
diese kleinen kristallinen Kugeln, mit denen man sich die
Gerüche seiner Kindheit ins Haus holen kann. Er hat die
Milchstraße schmerzlos, als reicher Mann und voller
nostalgischer Sehnsucht nach den Hunden und den Baggerseen seiner
Jugendzeit verlassen.
    Und dann ist da noch die Hamadryade. Vielleicht erinnern Sie sich,
daß es der letzte Wunsch des sterbenden Baumes war, zu einem
Buch zu werden. Ich habe diesen Wunsch nicht vergessen, und vor
kurzem bin ich darangegangen, ihn zu erfüllen. Wenn alles
geklappt hat, halten Sie gerade ein Stück der Hamadryade –
ein Memento mori – in den Händen.
    Aber am besten von uns allen hat es Flick getroffen, der schlaue
kleine Flick, der zuguterletzt doch noch sein Paradies gefunden hat,
und zwar hier in Shadu City. Vor zehn Jahren hat unsere Handelskammer
beschlossen, in der Innenstadt einen Park anzulegen – ein Netz
von Ententeichen und Grünflächen, das Dutzende von
Straßen ersetzt, die kein Mensch vermißt (außer
wenn das Troglobus-System zusammenbricht). Als sich dieses
metropolitane Eden der Vollendung näherte, suchte die
Handelskammer per Anzeige einen Baumgärtner. Flick bekam den
Job. Er ist für zwei Hektar Waldland, fünf Irrgärten,
acht verschiedene Rosengärten, dreihundert blühende
Büsche und mehr als tausend Bäume verantwortlich. Seine
Oliven gewinnen Preise. Er hängt Bänder in die Zweige; sie
sehen wie seidene Früchte aus.
    Es ist nicht leicht, ein Buch zu schreiben, wenn man so alt ist
wie ich. Der Körper tut nicht mehr alles, was man ihm befiehlt.
Aber ich werd’s schon schaffen. In diesem Augenblick
genieße ich zum Beispiel einen späten, warmen, von
angenehmen Düften erfüllten Nachmittag auf dem Dach meines
Wohnhauses. Ein Kätzchen hüpft auf meiner Denkmaschine
herum – nicht Puschkin, sondern Puschkins Enkel – und
fügt willkürlich Buchstaben in den Text ein. Ich betrachte
den Lebensbaum. Seine Äpfel funkeln wie goldene Kelche. Der
Vermieter hat mir erlaubt, hier oben einen Garten anzulegen. Er war
sehr verständnisvoll. Alles ist voller
Blütenblätter.
    Lilit braucht ihren Schlaflehrer nicht mehr so häufig. Sie
nimmt einen Apfel pro Monat, nur zur Sicherheit. Sie ist die letzte
Träumerin, die vom letzten Schlingbaum ißt. Einmal in der
Woche kommt Flick nach der Arbeit vorbei. Er düngt den Baum,
beschneidet ihn und besprüht ihn mit den Chemikalien, die
dafür sorgen, daß er kleinwüchsig bleibt. Er
verabreicht ihm sein wachstumshemmendes Mittel mit einer
ordinären Gießkanne. Die Gießkanne ist rot und
zerbeult. Er nennt sie den Jungbrunnen.
    Während ich diese letzten Worte schreibe, geht Alpheratz
unter und läßt die Umrisse des Gartens schärfer
hervortreten. Ich denke daran, mich schlafen zu legen. Flick ist mit
der Gießkanne in der Hand bei dem Baum zugange. Bienen summen
zwischen den Blüten herum und bestäuben sie
leidenschaftlich.
    Flick kippt die Gießkanne nach vorn.
    Die Bienen halten jetzt inne, wie zu Ehren des Elixiers, das auf
den Erdboden regnet, in der Sonne funkelt und seine Reise zu den
Wurzeln antritt.

 
    [i]   Das
englische fool’s paradise entspricht auch dem deutschen
Wolkenkuckucksheims To live in a fool’s paradise bedeutet
›in einer Traumwelt leben‹. – Anm. d.
Übers.
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