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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen
Autoren: James Morrow
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hielt mir einen Vortrag und machte
gleichzeitig selbst eine Entdeckung. »Aber ihr Bewußtsein
verbirgt den gesamten Vorgang vor ihr. Deshalb sagt sie immer wieder,
daß ihr Vater in einem Brunnen ist. Auch eine Verdrängung.
Aber eine viel tiefergehende Verdrängung als deine, Quinny
– das Wissen ist in Schichten hinabgedrückt worden, die
noch unter dem Unterbewußtsein liegen.«
    Urilla ging zu Kusks Bücherregalen hinüber und schaute
sich seine Sammlung an. Sie sah, daß sein Geschmack die ganze
phantasmagorische Skala von der Alchemie bis zur zoroastrischen Lehre
umfaßte. Es dauerte nicht lange, dann stieß sie auf das
Buch, das mich beinahe das Leben gekostet hätte: meine eigenen Oneiromanzen. Sie zog es heraus und warf einen Blick auf das
belastende Hologramm des Autors.
    »Eins hast du mir noch nicht erzählt, stimmt’s?
Diese ›Mein einziger Gott ist Goth‹-Geschichte.«
    Ich starrte Kusks Fische an. Ich konnte jetzt den ganzen Traum vor
mir sehen. Alles. »Der lauernde Lügner warf Lilits Leiche
weg.«
    »Er hat einen Androiden weggeworfen«, rief mir
Urilla ins Gedächtnis.
    »Er kam auf mich zu. Er schlug seine Kapuze zurück,
und…«
    »Es war Kusk?«
    »Ja. Kusk, der sich Goth nannte.«
    Hier schweifte ich ab und erzählte Urilla ausführlich
von meinen Erlebnissen mit der Thyestes- Lotoskapsel. Wie ich
den Bankettsaal betreten hatte. Wie ich die seltsamen Gerichte
verspeist hatte. Wie ich gehört hatte, daß Thyestes bereits aufgeführt worden sei. Wie ich den abgetrennten Kopf
gesehen hatte. Wie ich von Goth getröstet worden war, wenn dies
das richtige Wort dafür ist.
    »Der lauernde Lügner hatte den gleichen
Schluß«, erklärte ich. »Goth versprach, mich von
meiner Schuld zu erlösen, wenn ich ihm folgen würde –
wenn ich ihn als meinen einzigen Gott bezeichnen würde.
Verdammt, ich wette, daß jeder Baum in dem Garten diesen
Schluß hatte.«
    »Schuld sollte also der Eckstein von Goths Kirche sein«,
sagte Urilla nachdenklich. »Man ißt einen Apfel, gelangt
zu der Überzeugung, daß man irgendeine ungeheuerliche
Schandtat begangen hat, und braucht eine Religion, um geläutert
zu werden.«
    Ich stürzte mich in eine passable Imitation von Kusk/Goth.
»›Deine Sünde ist zu schlimm, als daß man sie
beim Namen nennen könnte. Deine Schuld könnte eine Sonne
zermalmen.‹«
    Urilla stellte die Oneiromanzen wieder an ihren Platz und
strich mit dem Finger über den Rücken von Madame Blavatskys Geheimlehre. »Also, wie geht es nun weiter? Normalerweise
würde eine Sitzung, bei der so viel ans Licht kommt, dem
Patienten neue Gesundheit und neues Glück versprechen. Aber in
deinem Fall ist da noch Lilit, die in ihren Alptraum eingesperrt ist,
gefangen von ihrem Schuldgefühl.«
    »Alptraum«, wiederholte ich. »Schuldgefühl.
Also – wie holen wir sie da raus?«
    Ich löste mich von der Couch.
    Wenn ein Gedanke in mir heranreift, übernimmt er meinen
ganzen Körper. Mein Kopf, mein Rumpf und meine Gliedmaßen
wurden jetzt zu einer wundervollen Idee. »Ich nehme an, du hast
die Traumdeutung gelesen«, sagte ich rasch.
    »Freud ist doch Schnee von gestern.«
    »Nicht ganz.« In meiner Stimme hörte ich Erregung
und Hoffnung; auch ein Hauch Verzweiflung klang darin mit. »Er
spricht von Traumata. Traumata produzieren Symptome. Und Träume.
Das Unterbewußtsein wird zu einer Bühne, auf der das
verdrängte Material gewissermaßen verschlüsselt immer
wieder aufs neue inszeniert wird. Aber bei einer Lotoskapsel
läuft es andersherum – ein Traum produziert ein Trauma. Was
Lilit also braucht, ist ein Antitrauma, richtig? Kein Gespräch,
keine Analyse. Ein Antitrauma.« In meinem Hirn summte es.
»Ich glaube, daß Goth von einem anderen seiner Art
vernichtet werden kann. Ich glaube, daß sich Goths Herrschaft
nur über die reale Welt erstreckt. Aber in der Lotoswelt ist er
verwundbar. Das ist meine Interpretation des lauernden
Lügners. Ich bin ein besserer Kritiker, als du denkst,
Urilla.«
    »Ein guter Kritiker, ja. Aber ein Therapeut?«
    »Ein Therapeut. Die Hamadryade hat mich nicht belogen.
Das Heilmittel ist in der Kharsog-Festung zu finden, in ihrer
Phrensamenschule, in ihrem Schlingbaum-Gewächshaus.« Ich
sprach doppelt so schnell wie sonst und trennte die Worte an
merkwürdigen Stellen. »Erinnerst du dich an das
Irrenschiff? An Marta Rem? Sie sah ein großes Werk in mir
heranreifen. Sie sagte, daß ich es im Moment der Reife
hervorbringen würde. Ich werde einen Baum machen, Urilla.
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