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Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Der Kommissar und das Schweigen - Roman

Titel: Der Kommissar und das Schweigen - Roman
Autoren: H kan Nesser
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bedachte, dann begriff sie, dass gerade dieses Finsterne der Grund dafür war, warum sie jetzt hier zögernd im Blaubeergestrüpp stand.
    Zögernd und mit Angst und Wut kämpfend. Und mit ihrem Gerechtigkeitssinn, wie gesagt.
    Genau deshalb.
    Rechts fiel das Gelände ab. Zum See und dem geschlängelten Kiesweg zu Finghers Hof hin, wohin sie abends immer grüppchenweise gingen, um Milch zu holen. Kartoffeln, Gemüse und Eier.
    Immer zu viert mit den beiden klapprigen Leiterwagen und Jellinek an der Spitze. Niemand hatte richtig verstanden, warum Jellinek immer dabei sein musste. Die Schwestern hätten doch genügt? Aber vielleicht wollte er sie nur vor Gefahren bewahren. Wahrscheinlich war es so. Finghers Hof war der einzige Kontakt, den sie mit der Anderen Welt hatten, wie Jellinek sie in seinen Reden, die er vormittags und am Abend hielt, zu bezeichnen pflegte.
    Die Andere Welt?
    Jetzt stehe ich in der Anderen Welt, dachte sie. Ich bin nicht
mal zweihundert Meter in sie hineingelaufen, und schon weiß ich nicht mehr, in welche Richtung ich gehen soll. Vielleicht stimmte ja doch, was er gesagt hatte? Vielleicht war tatsächlich Jellineks Gott der richtige Gott und nicht ihr eigener, ihr guter, verzeihender und fast ein bisschen kindischer Freudengott?
    »Teufel auch!«, murmelte sie und erschauerte wieder, diesmal aber vor allem wegen des Fluchs. Was um alles in der Welt nützte ein Gott, wenn er nicht gütig war?
    Aber was wollte sie eigentlich tun, wenn sie es schaffen würde, zur großen Straße zu kommen? Ja, auf diese Frage hatte weder sie noch einer der Götter eine Antwort.
    Das würde sich schon zeigen, wie ihre Großmutter immer zu sagen pflegte. Kommt Zeit, kommt Rat. Sie warf einen letzten Blick über den Hügel, auf die Gebäude dahinter, nur der alleroberste Teil des spitzen Dachs des Esssaals lugte noch zwischen den Bäumen hervor.
    Und dann natürlich das große schwarze Kreuz, das anzunageln sie am ersten Tag mitgeholfen hatten. Sie holte tief Luft, kehrte allem den Rücken zu und machte sich auf den Weg hinunter zum See. Es war immer noch am sichersten, den vertrauten Kiesweg einzuschlagen.
     
    Sie erreichte ihn genau bei der Riesenbirke, in die Marieke und sie geplant hatten, vor ihrer Abreise ihre Namen einzuritzen.
    Vorausgesetzt, sie schafften es, sich nach draußen zu schleichen. Wenn sie sich zwanzig Minuten Zeit von dem Reinen Leben stehlen konnten, es ihnen gelang, ungesehen hinauszuhuschen und zurückzukommen. Eigentlich hatten sie sich keine große Hoffnungen in diese Richtung gemacht – es war eher etwas, was man so sagte – aber jetzt stand sie doch hier und strich mit den Händen über die weiße, glatte Rinde.
    Das Reine Leben? dachte sie. Die Herde des Guten Lichts?
    Die Andere Welt?
    Scheißgerede.
    Das Wort rutschte ihr ebenso schnell heraus wie gestern.
Scheißgerede. Da hatte sie es nicht unterdrücken können, wie eine böse, ungezogene kleine Sommerschwalbe war es ihr herausgeflogen, und plötzlich war es zu einer Wolke angeschwollen.
    Ja, genau so war es gewesen. Eine dunkle, bedrohliche Wolke, die sich über alle Anwesenden im Saal des Lebens hängte. Die die Mädchen dazu brachte, die Luft anzuhalten, und Jellinek, seine bleichen Augen für Sekunden, die ihr wie Tage erschienen, auf sie zu richten.
    »Ich möchte hinterher mit dir reden«, hatte er schließlich gesagt, und dann hatte sein Blick sie verlassen, und er hatte in seinem üblichen ruhigen Tonfall weitergesprochen. Über die Reinheit und das Weiße und die Nacktheit und all das andere.
    Hinterher im Weißen Raum.
    Aber auch dort hatte er nicht viele Worte an sie verschwendet. Nur die Tatsache festgestellt.
    »Der Teufel, mein Mädchen. Du hast den Teufel in dir. Morgen werden wir ihn austreiben.«
    Dann hatte er sie mit einer müden Handbewegung ins Bett geschickt.
    Sie hatte davon gehört, dass man Teufel austrieb, aber sie wusste nicht, wie es vonstatten ging. Sie hatte geglaubt, das wäre etwas, womit sich nur die Erwachsenen beschäftigten, aber so war es wohl nicht. Jeder konnte vom Teufel besessen sein, sogar ein Kind, das hatte sie gestern Abend gelernt.
    Und jetzt sollte er ausgetrieben werden. Sicher nicht gerade ein angenehmes Erlebnis. Sicher um einiges schlimmer als die Auspeitschung der Sünden, und obwohl sie nun seit mehr als zwei Wochen hier war, war es ihr immer noch nicht gelungen, sich an die Rute zu gewöhnen. Jedes Mal musste sie hinterher heimlich ein wenig weinen, und sie hatte nie
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