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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen
Autoren: Pam Jenoff
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nehme ich ihn auf den Arm und drücke den kleinen, zitternden Jungen an mich.
    “Schon gut”, flüstere ich, während ich mit ihm nach unten klettere, wo der Rauch noch dichter geworden ist. Wir müssen hier schnellstens raus. Ich nehme ein Tuch, das auf Krysias Kommode liegt, und halte es Łukasz vor Mund und Nase. Als wir das Zimmer verlassen wollen, bemerke ich aus dem Augenwinkel etwas Blaues – es ist der Pullover, den Krysia für den Jungen gestrickt hat. Ihn nehme ich ebenfalls mit.
    Als wir den Raum durchqueren, in dem Krysia auf dem Boden liegt, halte ich Łukasz die Augen zu, damit ihm dieser Anblick erspart bleibt. Er hat in seinem jungen Leben bereits genug Tod und Elend gesehen. Mit einem großen Schritt steige ich über Krysias Leichnam und gehe weiter zur nächsten Treppe. Dann aber bleibe ich noch einmal stehen und drehe mich zu ihr um. Krysia. Mir wird das Herz schwer. Sie war unser Ein und Alles, sie hat uns gerettet und sich um uns gekümmert, als wären wir ihre leiblichen Kinder. Letzten Endes konnte sie also doch noch Mutter spielen, denke ich traurig. Ich wünschte nur, wir könnten sie aus dem Haus bringen. Sie hat eine angemessene Beerdigung verdient, zu der Hunderte Menschen kommen, die ihr die letzte Ehre erweisen.
    Aber dafür bleibt mir keine Zeit.
    “Danke”, flüstere ich und schaue sie ein letztes Mal an. Ich hauche ihr einen Kuss zu, dann laufe ich mit Łukasz auf dem Arm hinaus in die kalte Morgenluft.

26. KAPITEL
    D raußen setzt allmählich die Morgendämmerung ein, und für die Bauern von Chelm beginnt soeben ein neuer Arbeitstag. Sie füttern das Vieh und kehren die Straße vor ihrem Hof wie an jedem anderen Tag auch. Einige sehen in unsere Richtung und nicken uns zu, andere nehmen gar keine Notiz von uns, wie wir die Straße entlang in Richtung Wald gehen. Niemanden scheint es zu stören, dass ich mit einem rußgeschwärzten Jungen auf dem Arm zum Wald laufe. Bislang hat auch noch niemand den Rauch bemerkt, der aus Krysias Haus dringt.
    Je weiter wir vorankommen, umso weniger Häuser säumen die gewundene Straße. Vor uns ist der dichte Baumbestand zu sehen, dessen Dunkelheit uns Schutz verspricht. Schließlich geht die Straße in einen schmalen Trampelpfad über. Ich bleibe stehen und drehe mich um, damit ich einen letzten Blick auf meine Nachbarschaft werfen kann, die für mich jetzt der Vergangenheit angehört. Alles sieht so verschlafen und friedlich aus.
    Genug
, sage ich mir. Es führt zu nichts, über Dinge nachzudenken, die man nicht ändern kann. Mein Blick fällt auf den Boden, der von einer dünnen, mir zuvor nicht aufgefallenen Reifschicht überzogen ist. Auf einmal nehme ich die Umstände bewusst wahr, mit denen ich konfrontiert bin: die Kälte, das Gewicht des Jungen, die Strecke, die vor uns liegt … und die Tatsache, dass wir nichts haben.
    Mich überkommt ein Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Wir müssen weiter, wir dürfen keine Sekunde verlieren. Ich nehme Łukasz auf den anderen Arm, damit ich ihn auf meiner linken Hüfte abstützen kann, dann gehe ich weiter. Im Schutz der Bäume und damit den Blicken der Nachbarn entzogen, beschleunige ich meine Schritte, bis ich fast renne. Durch meinen Bauch und das Gewicht des Jungen auf dem Arm bewege ich mich etwas ungelenk. Durch den steiler und unebener werdenden Weg schmerzen mir bald die Beine, und an meinen Schuhen kleben große feuchte Erdklumpen. Plötzlich bleibe ich mit dem Fuß an einem Ast hängen und verliere das Gleichgewicht. Während ich vornüber falle, drücke ich den Jungen fest an mich, damit ihm nichts passiert. Noch im Fallen lasse ich mich zur Seite wegrollen, weil ich ihn sonst unter mir begrabe. Ein stechender Schmerz jagt durch meine Schulter.
    Benommen liege ich ein paar Sekunden lang auf dem Boden und ringe nach Luft. “Łukasz …”, sage ich, setze mich auf und ziehe den Jungen auf meinen Schoß. Schnell sehe ich nach, ob er sich verletzt hat, doch er scheint unversehrt zu sein. Lediglich etwas Erde klebt an seiner Stirn. “Geht es dir gut?” Er nickt stumm und setzt das Gesicht auf, das er immer dann macht, wenn er Hunger hat. Um diese Zeit bekam er sonst sein Frühstück in Krysias angenehm warmer Küche. Könnte ich ihm doch wenigstens etwas Milch geben. Ich wünschte, ich hätte an den Proviant gedacht, den Krysia für uns bereitgestellt hatte. Vor mir sehe ich das vorwurfsvolle Gesicht des Rabbis. Wie werde ich bloß ohne Krysia zurechtkommen? Werde ich überhaupt in
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