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Der Kommandant und das Mädchen

Der Kommandant und das Mädchen

Titel: Der Kommandant und das Mädchen
Autoren: Pam Jenoff
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der Lage sein, mich um mein eigenes Kind zu kümmern, wenn es zur Welt gekommen ist? Ich greife in die Manteltasche und finde einen Riegel Schokolade, den mir der Kommandant einmal geschenkt hat.
    Ich wickele ihn aus dem Papier und wische ihn ab, bevor ich ihn Łukasz gebe. “Hier.” Er nimmt ihn und steckt ihn schnell in den Mund, so als hätte er Angst, die Schokolade könnte sich gleich in Luft auflösen. Mit einem strahlenden Lächeln sieht er mich an. So ein Frühstück hat er auch noch nicht erlebt.
    Immer noch ein wenig außer Atem betrachte ich sein Gesicht. Nicht einmal eine Stunde nach dem traumatischen Besuch durch die Gestapo macht er einen ruhigen Eindruck.
Dann begleitest du mich also doch
, denke ich. “Komm, mein Schatz.” Ich stehe auf, hole den blauen Pullover unter meinem Mantel hervor und ziehe ihn Łukasz über. Er liegt eng an und wirkt eigentlich schon eine Nummer zu klein. In dem Jahr, das der Junge bei uns verbracht hat, ist er so groß geworden. Allen Tragödien zum Trotz ist er richtiggehend aufgeblüht. Ich kann nicht anders, als in ihm mein Kind zu sehen, doch insgeheim frage ich mich, ob der Rabbi oder ein Verwandter eines Tages zu mir kommen wird, um ihn abzuholen. Aber für den Augenblick ist er erst einmal bei mir. Ich halte seine Finger fest, als bräuchte ich diesen Kontakt, um glauben zu können, dass Łukasz wirklich bei mir ist. Sein Lächeln bestärkt mich in meinem Glauben, dass alles gut wird.
    “In Sicherheit”, sage ich laut, doch dann wird mir klar, wie wenig das der Wahrheit entspricht. Wir sind noch viele hundert Kilometer, gefahrvolle Kilometer davon entfernt, in Sicherheit zu sein. Nein, in Sicherheit sind wir nicht, aber in Freiheit. Ich weiß nicht, wohin wir gehen und wie wir das schaffen werden, und ich kann nicht einmal sagen, ob wir es überhaupt schaffen werden. Dennoch klingt das Wort sehr schön. “In Freiheit.” Ich werde mich nie wieder als jemand anders ausgeben müssen.
    “Feiheit”, versucht Łukasz mir nachzusprechen. Ich schaue ihn an und bemerke, dass noch Schokolade an seinen Fingern klebt. Als ich aus meiner Manteltasche ein Tuch ziehen will, berühren meine Finger etwas … meine Heiratsurkunde und die Ringe! Marta hat sie mir auf der Brücke zurückgegeben. Einmal mehr überlege ich, ob ich sie hier im Wald vergraben soll, doch dann mache ich mir bewusst, dass das Versteckspiel ein Ende hat. Ich hole die Ringe aus der Tasche und stecke sie zurück an meine Finger.
    Während wir weiter durch den Wald laufen, muss ich an diejenigen denken, die wir zurücklassen mussten. Krysia und Alek sind tot, ebenso meine Mutter. Ich weiß, ich werde um jeden von ihnen auf eine eigene Weise trauern. Und dann ist da noch der Kommandant. Im gleichen Moment sehe ich sein Gesicht vor mir, und mir stockt der Atem. “Nicht”, sage ich laut, doch es hilft nichts. Das Gesicht ist aber nicht das des Nazis, der hoch oben auf der Wawelburg thront und der seine Waffe auf mich richtet. Nein, diesen Mann gibt es nicht mehr. Stattdessen sehe ich den Mann, der am Tag der Abendgesellschaft Krysias Haus betritt, der mich in seinen Bann zieht und nicht wieder loslässt, der mich Dinge erleben lässt, die mein Körper bis dahin nicht kannte, und der mich in seinen Armen hält, während ich einschlafe. Der Mann, der um Vergebung bittet, als er im Sterben liegt. Jetzt wird mir klar, dass nicht nur er in diesem Moment gestorben ist. Der Kommandant hat Anna mitgenommen. Anna Lipowski. Die Freundin des Kommandanten. Ich frage mich, ob ich sie wohl vermissen werde.
    “Es reicht”, rufe ich so laut, dass meine Stimme auf der Lichtung ein Echo wirft, auf der wir eine kurze Rast eingelegt haben. Ich kann später immer noch versuchen, all diesen Dingen einen Sinn zu geben. Im Moment müssen wir weitergehen. Ich ziehe Łukasz hoch, der sich auf der Erde niedergelassen hat, dann machen wir uns wieder auf den Weg.
    Ich verdränge den Kommandanten aus meiner Erinnerung und denke an die anderen, die zurückgeblieben sind. Mein Vater. Er lebt, zumindest war das vor wenigen Stunden noch der Fall. Ich sehe das Leuchten in seinen Augen, als er mich durch die Öffnung in der Ghettomauer erkannte. Vielleicht wird er es schaffen, das zu überleben, was vor ihm liegt.
    Auch Marta lebt noch, sage ich mir. Sie saß auf der Brücke, die Waffe fest umklammert, schwer verwundet, aber furchtlos. Sie hat mir das Leben gerettet. Ich wünschte nur, unsere letzte Unterhaltung vor dieser Nacht wäre
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