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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten
Autoren: Simon Tolkien
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bestrafen, nur weil er versucht hat, eine Gerechtigkeit herzustellen, die das Rechtssystem ihm verweigert hat.«
    »Ich hoffe, dass Sie Recht behalten. Er hat mir mehrmals geschrieben, dass er zu mir zurückkehrt, sobald man ihn entlassen hat. Und langsam bin ich des Wartens müde«, sagte Aliza mit einem Lächeln, das zeigte, dass genau das Gegenteil der Fall war. Trave konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass diese Frau jemals die Geduld verlieren würde. Ihm war, als hätte er in seinem ganzen Leben noch niemanden kennengelernt, der eine derartige innere Ruhe ausstrahlte.
    »Fahren Sie immer die Straße am Fluss entlang«, wies sie ihn an, als sie ein paar Minuten später den Stadtrand von Mechelen erreichten. »Die führt direkt hin.«
    Er parkte den Wagen in einer Ecke des Vorplatzes und hielt Aliza untergehakt, während sie die Straße überquerten und schließlich vor dem Eingang der Kaserne standen. Trave betrachtete das Gebäude mit einiger Verwunderung – es war im schlichten, klassizistischen Stil des 18. Jahrhunderts erbaut und unterschied sich deutlich von all den hoch aufragenden, mit Giebeln bestückten Renaissance-Bauten, die das Stadtbild von Mechelen prägten. An den vier weißgetünchten Außenwänden und über alle drei Stockwerke hinweg befanden sich in regelmäßigen Abständen rechteckige Fenster. Durch das Eingangstor hindurch konnte Trave auf einen quadratischen Platz sehen, auf dem Männer in Uniform herumgingen.
    »Hier treffen wir uns immer im September«, sagte Aliza leise. »Wir haben Kerzen in der Hand, stehen im Kreis und sagen die Namen unserer Toten. Denn an dieser Stelle fuhren die Züge ab. Von hier sind all die Menschen losgefahren, um nie mehr nach Belgien zurückzukehren.«
    »Möchten Sie hineingehen?«, fragte Trave. Aber Aliza schüttelte den Kopf. Sie zog sich das Tuch zum Gebet über den Kopf, machte sich von Traves Arm los und faltete die Hände. Dann senkte sie den Kopf, richtete den Blick auf die Kaserne und begann zu singen, oder eher: zu rezitieren. Trave verstand die Sprache nicht, doch ihm war klar, dass das Hebräisch sein musste. Das Gebet war von einer solchen Trauer geprägt, dass Traves Herz schwer wurde.
    »Was ist das?«, fragte er, als Aliza fertig war. »Das klang, als würden Sie um die ganze Welt trauern.«
    »In gewisser Weise stimmt das«, sagte sie und sah ihn an. »Es stammt aus dem Buch der Klagelieder. Der Prophet Jeremia weint um Jerusalem nach dessen Zerstörung durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar. Er sagt: ›Oh weh, sie sitzt in Einsamkeit! Die Stadt, die voller Menschen war, ist eine Witwe geworden. Bei Nacht weint sie bitterlich, und ihre Träne ist auf ihrer Wange. All jene, die sie geliebt und genährt hat, sind ihr zu Feinden geworden.‹
    Dieses Lied singen wir an Tischa B’Av, unserem Trauertag, wenn wir uns daran erinnern, was unserem Volk widerfahren ist. Aber wir sind auch aufgefordert, zu hoffen und zu glauben, und wenn die, die wir lieben, sterben, loben wir Gott und sagen, dass er gut ist. Wir sagen Kaddisch für sie und weigern uns aufzugeben. Kommen Sie, Inspector, sagen Sie es mit mir. Ich werde Englisch mit Ihnen beten.«
    Aliza streckte die Hand aus, und Trave griff danach und stellte sich neben sie. Für einen Moment dachte er, dass sie beide in den Augen irgendwelcher Passanten recht seltsam aussehen mussten – eine steinalte Dame und ein viel jüngerer Mann, die im hellen SonnenscheinHand in Hand vor einer Militärkaserne standen und beteten. Er musste lächeln, und Aliza erwiderte das Lächeln. Und indem er ihre Hand fest in seiner hielt, sprach er ihr Zeile für Zeile das Kaddisch-Gebet nach und blickte dabei auf die Gedenktafel neben dem Eingangstor, die alles war, was der belgische Staat sich als Erinnerung an über 25   000 Menschen, die von hier aus in den Tod geschickt wurden, leisten wollte.
     
    Verherrlicht und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt, die Er
erschaffen hat nach Seinem Willen.
    Er möge Sein Reich fest begründen bei eurem Leben und in euren Tagen und beim Leben des ganzen Hauses Israel bald in naher Zeit.
    Es sei Sein großer Name gebenedeit von Ewigkeit zu Ewigkeit.
    Gebenedeit und gepriesen, gerühmt und erhoben, erhöhet und verherrlicht, geweiht und hochgelobt sei der Name des Heiligen! Gelobt sei Er, der so hocherhaben ist über alle Benedeiungen und Loblieder, Preisgesänge und Trostverheißungen, die in der Welt gesprochen werden.
    Reicher Friede komme vom Himmel, und
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