Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
sagte Edie knapp. »Diese Typen haben sie kaum gefangen und eingesperrt, da werden sie auch schon wieder freigelassen. Willst du dein Frühstück nicht?« Sie hatte gesehen, dass Harriet ihr Tablett nicht angerührt hatte.
    Harriet nahm sich demonstrativ ihren Reis vor. Wenn er nicht tot ist, dachte sie, bin ich auch keine Mörderin. Ich habe gar nichts getan. Oder?
    »Siehst du. So ist’s schon besser. Du musst ein bisschen essen, bevor diese Untersuchungen anfangen, was immer das sein mag«, sagte Edie. »Wenn sie dir Blut abnehmen, wird dir vielleicht ein bisschen schwindlig.«
    Harriet aß gewissenhaft und mit gesenktem Blick, aber ihre Gedanken rasten hin und her wie ein Tier in einem Käfig, und plötzlich kam ihr ein so schrecklicher Einfall, dass sie laut herausplatzte: »Ist er krank?«
    »Wer? Der Junge da, meinst du?«, fragte Edie schroff, ohne von ihrem Rätsel aufzublicken. »Ich halte nichts von dem Unfug, dass Kriminelle krank sind.«
    In diesem Augenblick klopfte jemand laut an die offene Zimmertür, und Harriet schrak so heftig zusammen, dass sie beinahe ihr Tablett umgestoßen hätte.
    »Hallo, ich bin Dr. Baxter«, sagte der Mann und streckte Edie die Hand entgegen. Er sah jung aus – jünger als Dr. Breedlove –, aber sein Haar war bereits schütter. Er trug eine altmodische schwarze Arzttasche, die sehr schwer aussah. »Ich bin der Neurologe.«
    »Ah.« Edie warf einen misstrauischen Blick auf seine Schuhe  – Laufschuhe mit dicken Sohlen und blauem Wildlederbesatz, wie sie die Leichtathletikmannschaft an der High School trug.
    »Wundert mich, dass es hier oben bei euch nicht regnet«, sagte der Arzt; er öffnete seine Tasche und wühlte darin herum. »Ich bin heute früh in Jackson losgefahren –«
    »Ja«, sagte Edie munter, »Sie sind der Erste hier, der uns nicht den ganzen Tag warten lässt.« Sie betrachtete immer noch seine Schuhe.
    »Als ich zu Hause wegfuhr«, sagte der Arzt, »um sechs, da gab’s eine schwere Unwetterwarnung für Central Mississippi. Wie es da geregnet hat – Sie würden’s nicht glauben.«
    Er rollte ein rechteckiges Stück grauen Flanell auf dem Nachttisch aus und ordnete in säuberlicher Reihe eine Taschenlampe, einen silbernen Hammer und ein Gerät mit Drehknöpfen darauf an.
    »Ich bin durch schreckliches Wetter gefahren, um herzukommen«, sagte er. »Eine Zeit lang hab ich befürchtet, ich müsste wieder nach Hause fahren.«
    »Was sagt man dazu«, sagte Edie höflich.
    »Ein Glück, dass ich es geschafft hab«, sagte der Arzt. »Um Vaiden herum waren die Straßen wirklich schlecht...«
    Er drehte sich um und sah Harriets Gesichtsausdruck. »Du meine Güte! Warum schaust du mich so an? Ich werde dir nicht wehtun.« Er musterte sie einen Moment und klappte dann seine Tasche zu.
    »Pass auf«, sagte er, »ich werde dir erst mal ein paar Fragen stellen.« Er nahm das Krankenblatt vom Fußende und betrachtete es eingehend, und seine Atemzüge klangen laut durch die Stille.
    »Wie sieht’s aus?«, fragte er und sah Harriet an. »Du hast doch keine Angst vor ein paar Fragen, oder?«
    »Nein.«
    »Nein, Sir«, sagte Edie und legte die Zeitung beiseite.
    »Also, es werden wirklich einfache Fragen sein«, sagte der Arzt und setzte sich auf ihre Bettkante. »Du wirst dir wünschen, dass die Fragen in der Schule auch alle so einfach wären. Wie heißt du?«
    »Harriet Cleve Dufresnes.«
    »Gut. Wie alt bist du, Harriet?«
    »Zwölfeinhalb.«
    »Wann hast du Geburtstag?«
    Er ließ Harriet von zehn aus rückwärts zählen, er ließ sie lächeln und die Stirn runzeln und die Zunge herausstrecken, sie musste den Kopf still halten und seinem Finger mit den Augen folgen. Harriet tat, was er sagte: Sie zuckte für ihn mit den Schultern, berührte ihre Nase mit dem Finger, sie krümmte und streckte die Knie, und die ganze Zeit wahrte sie eine gefasste Miene und atmete gleichmäßig...
    »So, das hier ist ein Ophthalmoskop«, sagte der Arzt. Er roch deutlich nach Alkohol – ob es Franzbranntwein oder Schnaps oder auch ein scharfes, alkoholisch riechendes Aftershave war, konnte Harriet nicht sagen. »Kein Grund zur Besorgnis, es wird lediglich ein sehr starkes Licht auf deinen Sehnerv werfen, sodass ich erkennen kann, ob irgendetwas auf dein Gehirn drückt...«
    Harriet blickte starr geradeaus. Soeben war ihr ein unbehaglicher Gedanke gekommen: Wenn Danny Ratliff nicht tot war, wie sollte sie Hely dann daran hindern herumzuerzählen, was passiert war? Wenn Hely
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher