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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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Ja, Ida hatte ihr eine Menge erzählt, aber plötzlich erschienen ihr diese Geschichten (die Streitereien, das geklaute Fahrrad) nicht mehr so überzeugend. Hatte Ida nicht auch Hely absolut grundlos gehasst? Und wenn Hely zum Spielen gekommen war, hatte Ida sich nicht oft in Harriets Namen empört, ohne sich dafür zu interessieren, wer schuld an ihrem Streit gewesen war?
    Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht hatte er es getan. Aber wie sollte sie es jetzt jemals mit Sicherheit wissen? Ihr wurde übel, als sie an die Hand dachte, die sich da aus dem grünen Wasser in die Luft gekrallt hatte.
    Warum hab ich ihn nicht gefragt?, dachte sie. Er war doch da. Aber nein, sie hatte zu viel Angst gehabt, sie hatte nur noch fliehen wollen.
    »Oh, sieh doch!« Harriets Mutter stand plötzlich auf. »Sie ist wach!«
    Harriet erstarrte. Sie war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie vergessen hatte, die Augen geschlossen zu halten.
    »Sieh mal, wer da ist, Harriet!«
    Ihr Vater stand auf und kam zum Bett. Trotz der matten Beleuchtung konnte Harriet erkennen, dass er ein bisschen dicker geworden war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
    »Hast deinen alten Daddy seit einer Weile nicht gesehen, was?«, sagte er. Wenn er zu Scherzen aufgelegt war, nannte er sich gern selbst den »alten Daddy«. »Wie geht’s meinem Mädchen?«
    Harriet ließ es über sich ergehen, dass er sie auf die Stirn küsste und ihre Wange energisch mit dem Handballen knuffte. Das war seine übliche Art, sie zu liebkosen, aber Harriet empfand eine tiefe Abneigung dagegen, vor allem, weil dieselbe Hand sie manchmal auch wütend ohrfeigte.
    »Wie geht’s dir?«, fragte er noch einmal. Er hatte Zigarren geraucht; sie konnte es riechen. »Du hast diese Ärzte gründlich zum Narren gehalten, Kind!« Wie er es sagte, klang es, als habe sie einen großen akademischen oder sportlichen Triumph errungen.
    Harriets Mutter hielt sich bang im Hintergrund. »Vielleicht möchte sie sich nicht unterhalten, Dix.«
    Ohne sich umzudrehen, sagte ihr Vater: »Sie braucht sich ja nicht zu unterhalten, wenn sie nicht möchte.«
    Als sie in das robuste, rote Gesicht ihres Vaters schaute und seine flinken, aufmerksamen Augen sah, verspürte Harriet das dringende Bedürfnis, ihn nach Danny Ratliff zu fragen. Aber sie hatte Angst.
    »Was?«, fragte ihr Vater.
    »Ich hab nichts gesagt.« Ihre eigene Stimme überraschte sie, so rau und dünn.
    »Nein, aber du wolltest.« Ihr Vater schaute sie leutselig an. »Was denn?«
    »Lass sie in Ruhe, Dix«, murmelte ihre Mutter.
    Ihr Vater wandte den Kopf – schnell und wortlos –, eine Bewegung, die Harriet nur zu gut kannte.
    »Aber sie ist müde!«
    »Ich weiß, dass sie müde ist. Ich bin auch müde«, sagte Harriets Vater in diesem kalten, übertrieben höflichen Ton. »Ich hab acht Stunden im Auto gesessen, um herzukommen. Soll ich jetzt nicht mit ihr sprechen?«

    Als sie endlich gegangen waren – die Besuchszeit war um neun zu Ende –, wagte Harriet nicht, einzuschlafen. Sie saß aufrecht im Bett und starrte die Tür an, voller Angst, dass der Prediger zurückkommen könnte. Ein unangekündigter Besuch ihres Vaters war an sich schon Anlass für Beklommenheit – zumal angesichts der drohenden Gefahr eines Umzugs nach Nashville –, aber das war jetzt ihre geringste Sorge. Wer konnte schon sagen, was der Prediger tun würde, nachdem Danny Ratliff tot war?
    Dann fiel ihr der Waffenschrank ein, und sie verlor vollends den Mut. Ihr Vater schaute nicht jedes Mal danach, wenn er nach Hause kam, meistens nur in der Jagdsaison, aber es würde zu ihrem Glück passen, wenn er es jetzt täte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Waffe in den Fluss zu werfen. Wenn Hely sie im Garten versteckt hätte, dann hätte sie sie wieder an ihren Platz zurücklegen können, aber dazu war es jetzt zu spät.
    Nie hätte sie sich träumen lassen, dass er so bald nach Hause kommen würde. Natürlich, sie hatte eigentlich niemanden mit dem Revolver verletzt – aus irgendeinem Grund vergaß sie das immer wieder –, und wenn Hely die Wahrheit sagte, lag er jetzt auf dem Grund des Flusses. Wenn ihr Vater einen Blick in den Schrank warf und feststellte, dass der Revolver weg war, konnte er sie doch nicht damit in Zusammenhang bringen, oder?
    Und dann war da noch Hely. Sie hatte ihm fast nichts von der wahren Geschichte erzählt, und das war gut. Aber hoffentlich würde er nicht allzu eingehend über die Fingerabdrücke nachdenken.
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