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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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Zimmer schlich oder jemand dahinter kam, was
passiert war. Dr. Breedlove hatte etwas von ungewaschenem Salat gesagt. Dabei musste sie bleiben, sie musste es fest im Gedächtnis behalten und davon reden, wenn man sie fragte. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand einen Zusammenhang zwischen ihrer Erkrankung und dem Wasserturm herstellte.
    Mit einer wütenden Willensanstrengung richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Frühstückstablett. Sie würde den Reis essen, das wäre wie ein Frühstück in China. Hier bin ich, dachte sie, ich bin Marco Polo und frühstücke mit Kublai Khan. Aber ich kann nicht mit Stäbchen essen, deshalb esse ich stattdessen mit dieser Gabel hier.
    Edie hatte sich wieder ihrer Zeitung zugewandt. Harriet warf einen Blick auf die Titelseite – und die Gabel verharrte auf halbem Wege zum Mund. MORDVERDÄCHTIGER GEFUNDEN lautete die Schlagzeile. Auf einem Foto sah man zwei Männer, die eine schlaff durchhängende Gestalt bei den Achseln hielten. Das Gesicht war gespenstisch weiß, langes Haar klebte an den Wangen, und es war so verzerrt, dass es nicht aussah wie ein richtiges Gesicht, sondern wie eine Skulptur aus geschmolzenem Wachs mit einem schiefen schwarzen Loch anstelle eines Mundes und großen, schwarzen Augenhöhlen wie bei einem Totenschädel. Aber bei aller Verzerrung gab es keinen Zweifel: Es war Danny Ratliff.
    Harriet saß aufrecht im Bett, drehte den Kopf zur Seite und versuchte, den Artikel zu lesen. Edie blätterte um und sah Harriets starren Blick und den seltsam schief gelegten Kopf. Sie ließ die Zeitung sinken und fragte in scharfem Ton: »Ist dir schlecht? Soll ich die Schüssel holen?«
    »Kann ich die Zeitung sehen?«
    »Natürlich.« Edie griff zum hinteren Teil, nahm die Comics heraus und reichte sie Harriet. Dann las sie geruhsam weiter.
    »Sie erhöhen schon wieder die Gemeindesteuer«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was sie mit all dem Geld vorhaben, das sie da fordern. Wahrscheinlich bauen sie wieder ein paar neue Straßen, die sie nie zu Ende bringen.«
    Wütend starrte Harriet auf die Comics-Seite, ohne etwas zu
sehen. MORDVERDÄCHTIGER GEFUNDEN. Wenn Danny Ratliff ein Verdächtiger war – wenn verdächtig das Wort war, das sie benutzten –, dann hieß das doch, dass er noch lebte, oder?
    Verstohlen warf sie noch einen Blick auf die Zeitung. Edie hatte sie jetzt halb zusammengefaltet, sodass die Seite eins nicht mehr zu sehen war, und hatte angefangen, das Kreuzworträtsel zu lösen.
    »Ich höre, dass Dixon dich gestern Abend besucht hat«, sagte sie in dem kühlen Ton, der sich immer dann in ihre Stimme schlich, wenn sie von Harriets Vater sprach. »Und wie war das?«
    »Okay.« Harriet hatte ihr Frühstück vergessen und saß jetzt kerzengerade im Bett. Sie versuchte, ihre Aufregung zu verbergen, aber sie hatte das Gefühl, wenn sie nicht bald die Titelseite zu sehen bekäme und erfahren könnte, was passiert war, würde sie tot umfallen.
    Er weiß nicht mal, wie ich heiße, sagte sie sich. Zumindest glaubte sie es nicht. Wenn ihr Name in der Zeitung gestanden hätte, säße Edie jetzt nicht so gelassen da und löste das Kreuzworträtsel.
    Er hat versucht, mich zu ertränken, dachte sie. Er würde kaum herumlaufen und den Leuten davon erzählen.
    Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte: »Edie, wer ist der Mann, der vorn auf der Zeitung ist?«
    Edie sah sie verständnislos an, dann drehte sie die Zeitung um. »Ach, der«, sagte sie. »Er hat jemanden umgebracht. Er hat sich oben in dem alten Wasserturm vor der Polizei versteckt und kam nicht mehr raus und wäre fast ertrunken. Vermutlich war er ziemlich froh, als jemand heraufkam und ihn fand.« Sie schaute eine Weile in die Zeitung. »Es gibt ein paar Leute namens Ratliff, die draußen hinter dem Fluss wohnen«, sagte sie dann. »Ich erinnere mich an einen alten Ratliff, der eine Zeit lang draußen auf ›Drangsal‹ gearbeitet hat. Tatty und ich hatten eine Heidenangst vor ihm, weil er keine Vorderzähne hatte.«
    »Und was haben sie mit ihm gemacht?«, fragte Harriet.
    »Mit wem?«
    »Mit dem Mann da.«
    »Er hat gestanden, seinen Bruder ermordet zu haben.« Edie wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. »Er wurde außerdem wegen einer Rauschgiftsache gesucht. Deshalb nehme ich an, sie werden ihn ins Gefängnis gebracht haben.«
    »Ins Gefängnis?« Harriet schwieg kurz. »Steht das da?«
    »Oh, er wird schon schnell genug wieder rauskommen, mach dir keine Sorgen«,
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