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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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sehr für sein Schicksal nach dem Tod interessiert (für sein irdisches Schicksal übrigens auch nicht), aber das bedeutete nicht, dass er nicht am Ende doch noch die Gnade erfahren hatte. Schließlich hatte Gott auch schon früher ganz unerwartet über Farish gelächelt. Als er sich nach dem Zwischenfall mit dem Bulldozer in den Kopf geschossen hatte und alle Ärzte gesagt hatten, dass nur noch die Apparate ihn am Leben hielten, da hatte er sie auch überrascht und war wie Lazarus wieder zum Leben erwacht. Wie viele Menschen gab es denn, die beinahe buchstäblich von den Toten auferstanden waren und
plötzlich zwischen den lebenserhaltenden Maschinen gesessen und Stampfkartoffeln verlangt hatten? Würde Gott eine Seele auf so dramatische Weise aus dem Grab zurückholen, nur um sie dann in die ewige Verdammnis zu stürzen? Wenn er den Leichnam sehen, wenn er ihn mit eigenen Augen anschauen könnte, dann würde er ganz sicher wissen, in welcher Verfassung Farish dahingegangen war.
    »Ich will meinen Bruder sehen, bevor sie ihn wegbringen«, sagte er. »Ich muss den Arzt suchen.«
    Der Cop nickte. Eugene wandte sich ab, aber Curtis packte panisch sein Handgelenk.
    »Sie können ihn hier draußen bei mir lassen«, sagte der Cop. »Ich passe auf ihn auf.«
    »Nein«, sagte Eugene, »nein, ist schon in Ordnung, er kann ruhig mitkommen.«
    Der Cop sah Curtis an und schüttelte den Kopf. »Wenn so was passiert, ist es ein Segen für sie«, sagte er. »Dass sie es nicht verstehen, meine ich.«
    »Das versteht keiner von uns«, sagte Eugene.

    Die Medizin, die Harriet bekam, machte sie schläfrig. Jetzt klopfte es an ihrer Tür: Tatty. »Liebling!«, rief sie und stürmte herein. »Wie geht’s meinem Kind?«
    Harriet rappelte sich erfreut auf und streckte die Arme aus. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl zu träumen, und das Zimmer sei leer, ein seltsames Gefühl, das so überwältigend war, dass sie sich die Augen rieb und versuchte, ihre Verwirrung zu verbergen.
    Aber es war Tatty. Sie gab Harriet einen Kuss auf die Wange. »Aber sie sieht gut aus, Edith«, rief sie. »Wach sieht sie aus.«
    »Na ja, es ist schon viel besser«, sagte Edie kühl. Sie legte ein Buch auf den Nachttisch. »Hier, ich dachte mir, das könnte dir Gesellschaft leisten.«
    Harriet sank auf das Kissen zurück und hörte zu, wie die beiden redeten, und ihre Stimmen verschmolzen zu einem
leuchtenden, harmonischen Nonsens. Dann war sie woanders, auf einer dunkelblauen Galerie mit verhängten Möbeln. Es regnete und regnete.
    »Tatty?«, sagte sie und richtete sich im hellen Zimmer auf. Es war viel später, denn das Sonnenlicht gegenüber streckte sich und schlich an der Wand hinab, bis es sich in einer glasigen Lache auf den Boden ergoss.
    Sie waren weg. Harriet fühlte sich benommen, als sei sie aus einem dunklen Kino in den gleißenden Nachmittag hinausgekommen. Ein dickes, vertraut aussehendes blaues Buch lag auf ihrem Nachttisch: Captain Scott. Als sie es sah, bekam ihr Herz Flügel. Nur um sicher zu sein, dass sie es sich nicht einbildete, streckte sie die Hand aus und berührte es, und dann setzte sie sich – trotz ihrer Kopfschmerzen und ihrer Benommenheit  – auf und versuchte, eine Weile zu lesen. Aber während sie las, versank die Stille des Krankenhauses nach und nach in einer außerweltlichen, gletscherhaften Lautlosigkeit, und bald hatte sie das unangenehme Gefühl, dass das Buch auf eine direkte und äußerst verstörende Weise zu ihr – Harriet  – sprach. Alle paar Zeilen stach ein Satz scharf und pointiert hervor, als rede Captain Scott sie unmittelbar an – als habe er in seinen Südpoltagebüchern absichtsvoll eine Reihe von persönlichen Botschaften an sie verschlüsselt. Alle paar Zeilen fiel ihr eine neue Bedeutung auf. Sie versuchte, es sich auszureden, aber das half nichts, und bald bekam sie solche Angst, dass sie gezwungen war, das Buch zur Seite zu legen.
    Dr. Breedlove kam an der offenen Tür vorbei und blieb stehen, als er sie aufrecht im Bett sitzen sah, angstvoll und aufgeregt.
    »Wieso bist du wach?«, wollte er wissen. Er kam herein, studierte mit ausdruckslosem Boxergesicht ihr Krankenblatt und ging mit polterndem Schritt wieder hinaus. Keine fünf Minuten später kam eine Krankenschwester mit einer weiteren Injektionsspritze hereingeeilt.
    »Na los, dreh dich schon um«, sagte sie grob. Sie schien aus irgendeinem Grund wütend auf Harriet zu sein.
    Als sie gegangen war, drückte Harriet das Gesicht in
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