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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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sagte der Cop. »Ich hab Sie den Gang runterkommen sehen und dachte ...«
    »Hören Sie«, Eugene war schon aufgestanden und entfernte sich, »hören Sie, ich muss da rein und zu meiner Großmutter. Ich...«
    »Gehen Sie nur, gehen Sie nur«, sagte der Cop; er schaute immer noch weg und wedelte mit der Hand, »gehen Sie wieder rein, und tun Sie, was Sie tun müssen.«
    Eugene ging durch den Nebeneingang hinein und blieb einen Moment lang benommen stehen. Eine Krankenschwester, die vorüberkam, sah ihn; sie schaute ihn ernst an und schüttelte leise den Kopf, und plötzlich fing er an zu rennen, seine Schuhe klatschten laut auf den Fliesen, und er rannte an Schwestern mit weit aufgerissenen Augen vorbei bis hinunter zur Intensivstation. Er hörte Gum, bevor er sie sah – ein trockenes, dünnes, einsam klingendes Heulen, das sein Herz scharf und schmerzhaft anschwellen ließ. Curtis stand die Angst ins Gesicht geschrieben, wie er so dasaß und heftig nach Atem rang. Er umklammerte ein großes Stofftier, das er vorher
noch nicht gehabt hatte, und eine Lady vom Patientendienst – sie war sehr freundlich gewesen, als sie ins Krankenhaus gekommen waren, und hatte sie ohne weitere Umstände zur Intensivstation gebracht – hielt seine Hand und sprach leise mit ihm. Als sie Eugene sah, stand sie auf. »Da ist er«, sagte sie zu Curtis, »da ist er wieder, mein Schatz, mach dir keine Sorgen.« Sie warf einen Blick zur Tür des nächsten Zimmers und sagte zu Eugene: »Ihre Großmutter...«
    Eugene ging ihr mit ausgestreckten Armen entgegen. Aber sie drängte sich an ihm vorbei und wankte in den Flur hinaus, und dabei rief sie mit einer seltsamen dünnen, hohen Stimme Farishs Namen.
    Die Lady vom Patientendienst hielt Dr. Breedlove, der eben vorbeikam, am Ärmel fest. »Doktor«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf Curtis, der nach Luft schnappte und regelrecht blau im Gesicht war, »er hat Atemprobleme.«
    Der Arzt blieb eine halbe Sekunde lang stehen und schaute Curtis an. »Epinephrin«, blaffte er, und eine Schwester lief davon. Eine zweite Schwester fuhr er an: »Warum ist Mrs. Ratliff noch nicht sediert?«
    Und mitten in all diesem Durcheinander – Krankenpfleger, eine Spritze in Curtis’ Arm (»So, mein Kleiner, gleich geht’s dir besser«) und zwei Krankenschwestern, die sich auf seine Großmutter stürzten – war plötzlich der Cop wieder da.
    »Hören Sie«, sagte er mit erhobenen Händen, »tun Sie einfach, was Sie tun müssen.«
    »Was?« Eugene sah sich um.
    »Ich werde hier draußen auf Sie warten.« Der Cop nickte. »Denn ich glaube, es wird die Sache beschleunigen, wenn Sie mit mir zum Revier kommen. Sobald Sie so weit sind.«
    Eugene schaute sich um. Er hatte die Situation immer noch nicht ganz begriffen; es war, als sehe er alles durch eine Wolke. Seine Großmutter war verstummt und schlurfte zwischen zwei Schwestern den kalten, grauen Gang hinunter. Curtis rieb sich den Arm, aber wunderbarerweise hatte sein Keuchen und Würgen aufgehört. Er zeigte Eugene sein Stofftier, das aussah wie ein Kaninchen.
    »Meins!«, sagte er und rieb sich mit der Faust die geschwollenen Augen.
    Der Cop schaute Eugene immer noch an, als erwarte er eine Antwort.
    »Mein kleiner Bruder«, sagte Eugene und wischte sich mit der Hand durch das Gesicht. »Er ist behindert. Ich kann ihn hier nicht einfach allein lassen.«
    »Na, dann nehmen Sie ihn mit«, sagte der Cop. »Wir finden bestimmt ein bisschen Schokolade für ihn.«
    »Baby?«, sagte Eugene und fiel fast hintenüber, als Curtis auf ihn zustürzte. Der Junge schlang seine Arme um ihn und vergrub sein feuchtes Gesicht an seinem Hemd.
    »Hab dich lieb«, sagte er mit erstickter Stimme.
    »Ja, Curtis.« Eugene klopfte ihm unbeholfen auf den Rücken. »Ja, ja. Jetzt hör auf. Ich hab dich auch lieb.«
    »Die sind süß, nicht?«, sagte der Cop nachsichtig. »Meine Schwester hatte auch einen mit Down-Syndrom. Ist nicht älter als fünfzehn geworden, aber – Gott – wir haben ihn alle geliebt. War die traurigste Beerdigung, auf der ich je gewesen bin.«
    Eugene antwortete mit einem undeutlichen Geräusch. Curtis litt an zahlreichen Krankheiten, und manche davon waren ernst, aber all das war das Letzte, worüber er jetzt nachdenken wollte. Was er jetzt eigentlich zu tun hatte, war ihm klar: Er musste jemanden fragen, ob er Farishs Leichnam noch einmal sehen und ein paar Minuten bei ihm verbringen könnte, um ein kurzes Gebet zu sprechen. Farish hatte sich nie allzu
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