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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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erfuhr, dass Danny noch lebte, würden ihn seine Fingerabdrücke auf dem Revolver nicht mehr interessieren; er würde sagen können, was er wollte, ohne den elektrischen Stuhl fürchten zu müssen. Und er würde über das, was passiert war, reden wollen, dessen war Harriet sicher. Sie musste sich überlegen, wie sie ihn zum Schweigen brachte...
    Der Arzt hielt nicht Wort, denn seine Untersuchung wurde immer unangenehmer, je länger sie dauerte. Er schob Harriet ein Stück Holz in die Kehle, um sie zum Würgen zu bringen, er betupfte ihren Augapfel mit Wattebäuschen, um sie zum Blinzeln zu bringen. Er schlug ihr mit einem Hammer an ihren Elektrizitätsknochen und stach sie hier und dort mit einer spitzen Nadel, um festzustellen, ob sie es spürte. Edie stand mit verschränkten Armen abseits.
    »Sie sehen mächtig jung aus für einen Arzt«, stellte sie fest.
    Der Arzt antwortete nicht. Er war immer noch mit seiner Nadel beschäftigt. »Spürst du das?«, fragte er Harriet.
    Harriet, die die Augen geschlossen hielt, zuckte gereizt zusammen, als er sie erst in die Stirn und dann in die Wange stach. Wenigstens war der Revolver weg. Hely konnte nicht beweisen, dass er da gewesen war, um ihn für sie zu beseitigen. Das musste sie sich immer wieder sagen. So schlimm es auch aussehen mochte, es stand immer noch sein Wort gegen ihres.
    Aber er würde tausend Fragen haben. Er würde alles wissen wollen – alles, was am Wasserturm passiert war –, und was konnte sie ihm jetzt sagen? Dass Danny Ratliff ihr entkommen war, dass sie nicht geschafft hatte, was sie sich vorgenommen hatte? Oder, schlimmer noch: dass sie vielleicht die ganze Zeit auf dem falschen Dampfer gewesen war, dass sie vielleicht gar nicht wusste, wer Robin ermordet hatte, und dass sie es vielleicht niemals wissen würde?
    Nein, dachte sie in plötzlicher Panik, das reicht nicht. Ich muss mir etwas anderes einfallen lassen.
    »Was?«, fragte der Arzt. »Hat das wehgetan?«
    »Ein bisschen.«
    »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Edie. »Wenn es wehtut.«
    Vielleicht, dachte Harriet – sie schaute zur Decke und presste die Lippen zusammen, als der Arzt etwas Scharfes über ihre Fußsohle zog – vielleicht hat Danny Ratliff Robin wirklich ermordet. Es wäre einfacher, wenn er es getan hätte. Mit Sicherheit wäre es am einfachsten, es Hely zu erzählen: dass Danny Ratliff es ihr am Ende gestanden hatte (vielleicht war es ein Unfall gewesen, vielleicht hatte er es gar nicht gewollt?), und dass er sie vielleicht sogar um Verzeihung angefleht hatte. Ein weites Feld von möglichen Geschichten erblühte wie giftige Blumen ringsherum. Sie konnte sagen, dass sie Danny Ratliff das Leben geschenkt, dass sie in einer großen Geste der Barmherzigkeit über ihm gestanden hatte. Sie konnte sagen, dass sie am Ende Mitleid mit ihm bekommen und ihn oben im Turm zurückgelassen hatte, wo er gerettet werden konnte.
    »Na, das war doch nicht so schlimm, oder?« Der Arzt stand auf.
    »Kann ich jetzt nach Hause?«, fragte Harriet hastig.
    Der Arzt lachte. »Ho! Nicht so eilig. Ich werde mich jetzt kurz draußen auf dem Flur mit deiner Großmutter unterhalten. Ist das okay?«
    Edie wandte sich zur Tür, und als die beiden hinausgingen, hörte Harriet, wie sie fragte: »Es ist keine Meningitis, oder?«
    »Nein, Ma’am.«
    »Hat man Ihnen von dem Erbrechen und dem Durchfall erzählt? Und von dem Fieber?«
    Harriet blieb still im Bett sitzen. Sie hörte den Arzt draußen reden, aber so sehr sie darauf brannte zu erfahren, was sie über sie sagten, seine murmelnde Stimme war zu weit weg und zu geheimnisvoll und zu leise. Sie starrte ihre Hände auf der weißen Bettdecke an. Danny Ratliff lebte noch, und auch wenn sie es niemals geglaubt hätte, noch vor einer halben Stunde nicht: Sie war froh. Selbst, wenn es bedeutete, dass sie gescheitert war: Sie war froh. Und wenn das, was sie gewollt hatte, von Anfang an unmöglich gewesen war, lag doch immer noch ein gewisser, einsamer Trost in der Tatsache, dass sie genau das gewusst und es trotzdem versucht hatte.

    »Junge«, sagte Pem und schob seinen Stuhl zurück; er hatte eine Cremeschnitte zum Frühstück gegessen. »Zwei volle Tage war er da oben. Der arme Kerl. Selbst, wenn er seinen Bruder umgebracht hat.«
    Hely schaute von seinen Frühstücksflocken auf, und mit fast unerträglicher Anstrengung gelang es ihm, den Mund zu halten.
    Pem schüttelte den Kopf. Seine Haare waren noch feucht von der Dusche. »Er konnte nicht mal
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