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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Empfehlung sagen wollen. Aber ich spürte: Das war etwas, was man dir nicht sagen konnte. Dir den Vorschlag zu machen, die Dinge so zu sehen - das hätte dir wie Hohn geklungen. Denn es war falsch, und wir beide wußten, daß es falsch war. Es wäre die billigste aller Tröstungen gewesen, die Tröstung durch Lüge. Eine Lüge, wie einer sie ausspricht, wenn er sich den Schmerz des anderen vom Hals schaffen will, statt ihn zu teilen. Du schriebst die Musik für die anderen: Sie sollten dich dafür lieben. Jede einzelne deiner Noten, die du kalligraphisch auf die Linien setztest, war getragen von dieser Sehnsucht nach Anerkennung.
    Das Schlimmste war: Man konnte sie nicht verfluchen, deine Sehnsucht, wie man sonst Wunsch und Willen eines anderen verfluchen mag, weil sie ihn zerstören. Denn deine Sehnsucht war so gut, so mühelos zu verstehen. Du warst alles andere als erfolgsüchtig, obwohl dein Bedürfnis nach Erfolg wie eine Sucht war. Denn das eine warst du nicht: eitel und selbstverliebt. Sie sollten dich nicht großartig finden, damit auch du dir großartig vorkämest. Was du suchtest, war das Gefühl, angenommen zu sein, aufgehoben im Wohlwollen der anderen.
    Das einzig Aufrichtige wäre gewesen, mit dir durch die Enttäuschung hindurchzugehen, sie mir zu eigen zu machen, auch wenn sie nicht meine war. Kann man das? Ich weiß es nicht, Vater, und ich denke, auch das hättest du nicht gewollt.
    Du wolltest die Einsamkeit in deiner Enttäuschung. Auf sonderbare Weise wolltest du sie als Gegenstück zu der ersehnten, überbordenden Anerkennung, von der du träumtest. Es war, als wäre dir der Applaus fade und wertlos vorgekommen, wenn ihm in deinem Inneren nicht die kompromißlose Einsamkeit einer Ablehnung entsprochen hätte. Deshalb wohl kam es mir unmöglich vor, dich zu berühren oder auch nur neben dich zu treten, um dir meine Verbundenheit zu zeigen. Es wäre mir anmaßend erschienen.
    Nein, es war nicht möglich, dich zu trösten. Auch deshalb bin ich geflohen.

    So sprach ich zu Vater. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und stellte mir vor, ich sei es, der seinem Sohn jenen Brief nach Chile schriebe. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, sobald ich mir die kurzen, hölzernen Sätze nicht nur zitierend vorsagte, sondern sie dachte , hier dachte, genau hier, wo Vater sie gedacht hatte. Plötzlich wußte ich, weshalb ich hiergeblieben war.
    Durch ein Berlin, das mich nichts anging, fuhr ich zur Hochschule der Künste und machte am Schwarzen Brett einen Aushang: Ich würde jemanden suchen, der mir unbekannte Opernpartituren als Klavierauszug vorspielen könne.
    Kaum war ich zurück, meldete sich am Telefon eine junge Französin, deren Vater in der Botschaft arbeitet. Juliette Arnaud heißt sie. Ihre erste Frage war, ob ich der Sohn von Monsieur Frédéric sei. Ich war verblüfft, doch inzwischen weiß ich: Vater war vielen Studenten der Hochschule ein Begriff. Er beriet sie im Steinway-Haus beim Kauf eines Klaviers, und er ging mit ihnen, wenn sie sich auf eine Annonce hin ein gebrauchtes ansehen wollten. Er genoß den Ruf eines unbestechlichen Experten, dem man bei Klavieren nichts vormachen konnte. Auch gestimmt hat er sie, wenn sie nachher in den Studentenbuden standen; mehrmals, wegen Temperatur und Feuchtigkeit, und unentgeltlich.
    Still saß er anschließend in der Studentenküche beim Wein. Nur wenn sie ihn aufforderten, vom Klavierbau zu erzählen, konnte er reden. Und wenn er sich dann durch die Aufmerksamkeit der anderen angenommen fühlte, stellte er ab und zu auch eine Frage nach ihrem Leben, die durch eine sonderbare Einfachheit beeindruckte, die Art von Einfachheit, welche die ersten Fragen eines Laien an sich haben, wenn er sich einem fremden Gegenstand zuwendet. Wie das sei, in einer richtigen Familie aufzuwachsen, mit Vater, Mutter und Geschwistern, wollte er wissen. Was ihn vor allem interessierte: wie es bei den gemeinsamen Mahlzeiten sei, was man da rede, ob man immer rede oder manchmal auch schweige, und ob das dann unangenehm sei, peinlich. Und: was junge Menschen, wie sie es seien, dazu bewegen könne wegzugehen, wenn sie vorher in einer Familie aufgehoben waren.
    Anfänglich grinsten die Studenten, die an Familienspaziergänge und ähnliches zurückdachten. Doch etwas an Vaters Art zu fragen ließ das Grinsen bald verschwinden. Die Einsamkeit, die aus seinen Fragen sprach, füllte die Küche, und plötzlich fingen diese Experten in Familienzynismus an, nach ernsthaften Antworten auf
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