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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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Zelle saßest du da, das Gesicht nach vorne geschoben, den Blick unverwandt auf die Partitur gerichtet, verloren für alles außer der Musik: Für uns Kinder war dies das Sinnbild des Wichtigen - auch wenn wir keine Ahnung hatten, was wir darunter verstanden. Manchmal haben wir die Tür einen Spaltbreit geöffnet und dich in deiner Versunkenheit betrachtet, umgeben von einer Stille, die nur durch das kratzende Geräusch der Feder auf dem Notenpapier unterbrochen wurde. Der Gegensatz zwischen dieser Stille und der Musik, die, wie wir wußten, in dir erklang - er war ein Mysterium, wunderbar und ein bißchen auch beängstigend. Das, Vater, ist das Bild, durch das du all die Jahre in mir gegenwärtig warst.
    Zu diesem Bild gehört auch das rhythmische Bewegen des Kopfes, ein langsames seitliches Schaukeln, manchmal unterbrochen durch ein sanftes Kreisen. Das Notenschreiben war die einzige Gelegenheit, bei der du in diese sonderbare Bewegung verfielst, die für mich unauflöslich mit dem Anblick deines Gesichts verbunden ist. Sie gab dir etwas von einem selbstvergessenen Kind und auch etwas von einem Schlafwandler, der abstürzte, würde man ihn aufwecken. Einmal, Patty und ich mochten acht oder neun sein, sahen wir dich so, als wir vom Spielen kamen und noch in ausgelassener Stimmung waren. Wir rannten weg, um ungehört in prustendes Lachen ausbrechen zu können, so komisch berührte uns dein Schaukeln. Doch dann geschah etwas Sonderbares: Kaum hatten wir uns Luft gemacht, erstarb uns das Lachen, und wir blickten uns voller Scham an: Wie du da am Schreibtisch saßest, schaukelnd und kreisend in deiner einsamen Welt, das war nichts, über das man sich lustig machen durfte. An jenem Abend waren wir beim Essen stiller als sonst und wetteiferten darin, dir das Salz, das Brot und andere Dinge zu reichen.
    Was sich mir mit unauslöschlicher Beklemmung ins Gedächtnis eingegraben hat, sind die Berge von Notenpapier, mit denen sich der riesige Papierkorb füllte, lauter angefangene Blätter, die du wegwarfst, weil dir ein Fehler unterlaufen war und du es nicht ertragen konntest, auch nur eine einzige durchgestrichene oder ausradierte Note zu sehen, die das Gesamtbild eines makellosen Partiturenblatts gestört hätte. Oft genug geschah es, daß die alte Feder spritzte, und auch dann warfst du das Blatt weg. Ich weiß nicht, was von beidem ich schlimmer fand, wenn ich, noch ein Kind, bei abgeschlossener Tür den Papierkorb untersuchte wie eine geheime Akte: ein nahezu leeres Blatt, auf dem dir schon bei der ersten Note ein Mißgeschick passiert war, oder ein praktisch fertiges Blatt, bei dem in der untersten Ecke ein kleiner Spritzer zu sehen war.
    Doch nicht dein stilles, sehnsüchtiges, mönchisches Arbeiten mit all seiner Komik war es, das unerträglich wurde. Es war der Mißerfolg und das, was er aus dir gemacht hat. Denn die eingesandten Partituren kamen zurück, eine nach der anderen, Jahr für Jahr. Sie kamen mit der gewöhnlichen Paketpost. Als seien es irgendwelche beliebigen Waren, hast du einmal gesagt; warum sie nicht als Wertpakete geschickt würden, das wäre doch das mindeste. Immerhin waren es Originale, die Seiten gefüllt mit handschriftlichen Noten, die Arbeit von vielen hundert Stunden.
    Einmal, da fand ich einen Ausschreibungstext für einen der vielen Wettbewerbe, an denen du teilgenommen hast. Darin gab es einen fettgedruckten Absatz, in dem darum gebeten wurde, aus Sicherheitsgründen auf keinen Fall das handschriftliche Original der Partituren einzusenden, sondern eine gute Fotokopie. Trotzdem hast du stets das Original eingesandt. Es war, als ob du die Welt zur Anerkennung deiner Leistung zwingen wolltest, indem du ihr das unmittelbare Werk deiner Hände vorzeigtest. Damit es den Mächtigen möglichst schwerfiele, es abzulehnen, schwerer, als wenn eine Kopie käme, die durch ihr neutrales Schwarz etwas Anonymes an sich hatte, hinter dem der Autor verschwand. Du wolltest der Jury in jeder Note aufs lebendigste gegenwärtig sein als einer, den es verletzen mußte, wenn man sein Werk zurückwies.
    Dazu paßte die heilige, andächtige Sorgfalt, mit der du die Partitur jeweils einpacktest, mit Unmengen von Seidenpapier zum Polstern. Alle Schachteln, die bei uns leer wurden, hast du mit einem prüfenden Blick betrachtet: ob sie geeignet wären, darin eine Partitur zu verschicken. Manchmal hast du sie angefaßt, manchmal nur betrachtet, aufmerksamer als man sonst ein Stück Verpackungsmaterial betrachtet. Alle
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