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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer
Autoren: Pascal Mercier
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könnte es kurz vor Ende tun, wenn Mario Cavaradossi, der Maler, auf der Engelsburg vom angetretenen Kommando erschossen wird, angeblich nur zum Schein, doch Scarpia hat sein Wort gebrochen, und die Schüsse sind echt. Man könnte gleichzeitig mit den Soldaten schießen, dann fiele der Knall nicht auf. Den genauen Zeitpunkt, den hättest du mühelos getroffen, Vater, du kennst jeden Takt dieser Oper, so wie du jeden Takt jeder Oper kennst.
    Aber du hättest aufstehen und vor aller Augen die Waffe auf die Bühne richten müssen. Es ist viel zu melodramatisch, es paßt nicht zu dir. Oder doch?
    Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl zu verstehen: Sollte Vater es tatsächlich getan haben, dann hatte ihn das Theatralische seines Tuns nicht gestört. Im Gegenteil: Es war wie die Szene in einer Oper. So ergab es einen Sinn. Zugleich aber war es undenkbar. Auf einen anderen hätte er vielleicht zielen können, einen wie Gygax, den Heimleiter. Aber nicht auf Antonio di Malfitano.
    Ich fror und ging hinein, um am Flughafen anzurufen.

    Es war ein sonderbares Erwachen im leeren Haus. Ich hatte nicht daran gedacht, die Fensterläden zu schließen, und ohne die Gardinen ist es an einem frostklaren Morgen blendend hell in den Räumen. Das Sonnenlicht brach sich in den schwarzglänzenden Flächen des Flügels, die Vater so sehr liebte. Das gestrige Ausräumen hatte dort Staub hinterlassen, und als erstes nahm ich das Taschentuch und wischte ihn weg. So hätte es auch Vater gemacht. Ich wischte lange, viel länger als nötig, und nach dem Kaffee noch einmal. Dann stand ich lange am Fenster und überlegte, ob ich zum Grab gehen sollte. Doch das war es nicht, worum es ging. Was aber war es dann, was ich Vater schuldete?
    Ich schloß den Metallkoffer auf und nahm seine Partituren heraus. Eine nach der anderen wog ich sie in der Hand. Vierzehn Opern, das Werk von dreißig Jahren. Natürlich habe ich gewußt, daß es viele waren. Trotzdem hat es mich erschüttert: Da war immer noch eine und noch eine und noch eine. Blütenweißes Papier, jede Note mit kalligraphischer Sorgfalt hingemalt. Wie wir uns doch diesen Noten, diesen Tönen gegenüber verschlossen haben, du und ich! Geradezu verbarrikadiert haben wir uns im Inneren, bis daraus schließlich eine selbstauferlegte Taubheit wurde. Lange saß ich und blätterte. Ich kam mir vor wie ein Analphabet vor einem Buch. Ich, der Sohn eines Komponisten.
    Der erste Brief, den Vater mir nach Chile schickte, kam mir in den Sinn. Von den vielen Briefen, die aus Berlin kamen, war er der einzige, den ich öffnete. Ich kann ihn auswendig. Er verfolgte mich bis in die Träume hinein. Wochenlang suchte ich nach Worten, um ihm zu antworten, und fand sie nicht. Ohne Euch ist es leer hier, schrieb er. In den ersten Tagen konnte ich nicht komponieren. Jetzt geht es wieder. Warum bist Du weggegangen? Ich verstehe es nicht. Hattet Ihr es nicht gut hier? War ich ein so schlechter Vater? Es tut mir leid. Ich vermisse Dich (und auch Patricia). Es geht mir eine Melodie durch den Kopf. Sie ist für Dich. Chile, das ist so weit weg. Du willst sicher nicht, daß ich Dich besuche. Sonst wärst Du nicht geflohen. Ich hoffe, Du wirst dort Erfolg haben. Ich denke an Dich. Vater. P.S. Den Hausschlüssel bewahre ich für Dich auf.
    Ich habe ihn nie beantwortet, diesen Brief. Die richtigen Worte, sie kamen erst heute. Zuerst sagte ich sie leise, dann sprach ich sie laut in den hallenden Raum hinein. Dabei stand ich auf und begann, auf und ab zu gehen. So war es leichter, mich zu verteidigen. Ja, Vater, sagte ich zu ihm, es war eine Flucht. So schrecklich das auch klingt. Eine Flucht vor vielem, nicht nur vor dir. Aber auch vor dir. Oder eigentlich nicht vor dir, sondern vor deinem übermächtigen, versklavenden Traum vom Erfolg, deiner aberwitzigen, dich verzehrenden Sehnsucht nach Anerkennung für deine Musik. Ich habe es nicht mehr ertragen, einfach nicht mehr ausgehalten, in dem Haus zu leben, wo du jede freie Minute mit deinen Partituren verbrachtest, den wirklichen und den erträumten, stets den Durchbruch vor Augen, den rauschenden Applaus nach der Aufführung deiner Werke.
    Lange Zeit war es große Ehrfurcht, was Patty und ich empfanden, wenn wir dich beim Notenschreiben sahen. Der gewaltige Schreibtisch aus Mahagoni, der schöne aber unbequeme
    Stuhl, du mit kerzengeradem Rücken auf der äußersten Kante, ein Anlehnen und Ausruhen kam nicht in Frage, viel zu ernst war deine Mission, wie ein Mönch in seiner
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